Götterfall
Fáskrúðsfjörður,
Island]
Der Mann stand plötzlich auf Silvies Terrasse. Er war groß und stark, wenn er vorhatte, sie zu überfallen, wäre sie chancenlos. Die Glastür war gänzlich zur Seite geschoben, denn Silvie hatte die letzte halbe Stunde etwas frische Luft in das Gästezimmer gelassen. Keine zwanzig Meter von ihrer Balustrade entfernt lag der Fjord, und der Wind, der vom Meer herüberwehte, tat gut, sie hatte nämlich schon den ganzen Tag irrsinnige Kopfschmerzen. Das Erscheinen dieses Riesen löste ein noch fieseres Stechen an den Schläfen aus, so als hätte der Schreck ihr eine Extraportion Blut ins Hirn gejagt.
Erst als die Sonne in diesem Moment hinter einer Wolke verschwand und somit das Gegenlicht nicht mehr zu grell blendete, erkannte sie die Gestalt von Jarle Yngvisson. Immerhin, kein Einbrecher, aber von Wiedersehensfreude war Silvie weit entfernt.
Die Demütigung in der Hallgrimskirkja würde sie ihm nie verzeihen, er hatte sich auch bislang nicht dafür entschuldigt. Da mochte Alf Urbich seinen Mitarbeiter noch so sehr in Schutz nehmen, dieser Mann hatte bei Silvie sämtliche Sympathien verspielt.
»Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, sagte sie. »Warum kommen Sie nicht wie jeder normale Mensch durch die Tür?«
»Weil da Ihre Sicherheitsleute stehen«, antwortete er und trat in ihre Suite. »Und das, was ich Ihnen jetzt mitteile, ist nichts für fremde Ohren.«
»Haben Sie meinen Mann gefunden? Ist ihm … ist ihm etwas zugestoßen?«
»Karl Hüffart geht es gut. Sie brauchen sich um ihn keine Sorgen zu machen.«
Silvie war unendlich erleichtert. Seit Karls Verschwindenhatte sie kein Auge zugetan, immer wieder waren Schreckensszenarien aufgeblitzt – Karl allein in irgendeiner Felsspalte, Karl in der Gewalt von Götze, Karl am Ende seiner Kraft und vergeblich nach ihr rufend. »Wo ist er?«
»Sie werden ihn morgen früh treffen.«
»Morgen früh? Aber … das geht nicht! Er braucht dringend seine Medikamente, sonst …«
Yngvisson setzte sich ungefragt auf einen der goldschimmernden Sessel. »Es gibt eine Forderung, über die wir reden sollten.«
»Eine was?«
»Man verlangt drei Millionen Euro für Ihren Mann.«
Nun musste sich auch Silvie setzen. Drei Millionen? Mein Gott, so viel Geld! »Wir haben eine solche Summe beim besten Willen nicht verfügbar. Ein ehemaliger Politiker ist nicht Krösus, auch wenn viele das denken! Er war ja nie Bundespräsident, von einer saftigen Pension können wir nur träumen.«
»In dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen, Frau Hüffart. Die Forderung wird nicht an Sie gerichtet, sondern an den Konzern.«
»Das verstehe ich nicht! Was hat AlumInTerra …«
»Doch, das verstehen Sie sehr wohl. Es geht um den nicht ganz sauberen Verkauf der Kreuma-Werke, aus dem die Firma heute noch Profit schlägt …« Er beugte sich vor und legte seine Ellenbogen auf die Knie wie ein nervöser Fußballtrainer am Rande des Spielfeldes. »Sie brauchen sich da nicht zu verstellen, Frau Hüffart, ich bin in die Angelegenheit eingeweiht.«
Silvie blieb trotzdem vorsichtig, der Mann konnte viel erzählen. »Wer steckt Ihrer Meinung nach dahinter?«
»Wenn wir das wüssten!« Er behielt seine Körperhaltung bei und sprach fast im Flüsterton: » AlumInTerra sollte dringend darauf eingehen, denke ich. Die Forderung hört sich nicht nach einem Spaß an.«
Nein, wirklich nicht! »Und warum tauchen Sie dann bei mir auf?«
»Ich brauche Ihre Unterstützung, Frau Hüffart. Die Entführer haben sich an mich gewandt, ich soll eine Art Unterhändler sein. Wenn ich Sie an meiner Seite wüsste, wären wir zu zweit, um Urbich zu überzeugen. Sie kennen ihn ja und wissen, wie ungern er sich etwas vorschreiben lässt.«
In Silvies Kopf fühlte es sich an, als liefen diverse Sprengungen ab, heißer Schmerz hinter dem linken Auge und an der Stelle, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht. »Ich muss Tabletten nehmen, wissen Sie, ich habe entsetzliche …«
»Wir sollten keine Zeit verlieren, Frau Hüffart. Das Geld muss bis morgen früh da sein. Und heute ist Sonntag, die Banken sind geschlossen. Je eher wir mit der Überzeugungsarbeit anfangen, desto besser.«
Da hatte er natürlich recht. Hastig steckte sie ein bisschen Aspirin ein, um ihm dann zu folgen – ebenfalls über die Terrasse, als habe sie tatsächlich etwas zu verbergen.
Das Gästehaus lag ein paar Schritte vom Geschäftsgebäude entfernt, man musste einen mit Natursteinplatten ausgelegten Weg
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