Götterfall
sehen das alles viel lockerer als wir. Jarle zum Beispiel hat einen Doktortitel in Physik, ist erfolgreicher Ingenieur bei einer großen Firma, beschäftigt sich aber auch ganz intensiv mit der Kulturgeschichte seiner Heimat und hat da auch noch einen Nebenjob in dem Bereich. Ein Romantiker. Und wunderschön, ich möchte wetten, es fließt Wikingerblut durch seine Adern.« Isa kicherte wie eine Konfirmandin.
Inzwischen hatte Wencke begonnen, den Rucksack von innen feucht auszuwischen. »Ich werde übrigens eine Woche weg sein. Wenn du willst, gehen wir beide gleich die Termine durch, an die Emil denken muss. Fußballtraining, Schulbasar …«
»Jarle wohnt in Reykjavik und hat noch eine Hütte in …«
»Mama!« Diese Anrede benutzte Wencke nur, wenn es hart auf hart kam. So wie jetzt. »Noch mal: Es wird keine Vergnügungsreise. Ich sitze dort wahrscheinlich einige Stunden in irgendwelchen Seminarräumen und beschäftige mich mit der altgermanischen Mythologie. Sollte mir dabei dein ausgedienter Wikinger über den Weg laufen, werde ich ihn von dir grüßen, versprochen.«
Isa wurde giftig. »Nur weil dein Liebesleben zu einem frustrierenden Nichts geschrumpft ist!«
Nein, darauf reagierte Wencke nicht. Sie steckte ganz seelenruhig ihre Siebensachen ins Handgepäck. Reisepass, Sprachführer, Kopfschmerztabletten.
»Bloß weil du hoffnungslos altmodisch bist und glaubst, es gäbe nur einen Mann zum Lieben. Blöd, wenn der verheiratet ist …«
Tempotaschentücher, Handyaufladekabel, Ohropax, ganz wichtig!
»… und seine Ehefrau auch noch ein Kind von ihm erwartet!«
Der kleine Notizblock mit dem angeklemmten Kugelschreiber fiel Wencke aus der Hand. »Woher weißt du davon?«
Isa grinste, als hätte sie soeben einem Finalkampf die entscheidende Wendung gegeben. »Axel hat mich angerufen.«
»Wann?«
»Gestern.«
»Warum?«
»Wir telefonieren öfter mal.«
Das wollte Wencke sich besser nicht vorstellen, wie Axel und ihre Mutter sich per Telefon über ihr höchstpersönliches Seelenheil austauschen. Bislang hatte sie geglaubt, diese beiden Menschen, die ihr das Leben in regelmäßigen Abständen komplizierter machten, hätten nichts miteinander zu tun. »Warum um Himmels willen telefoniert ihr öfter mal?«
»Weil wir uns Sorgen um dich machen.«
Wencke ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und brachte kein Wort heraus.
»Axel hat mich angerufen und mir erzählt, dass seine Frau in den nächsten Tagen ein Kind erwartet und du so zimperlich reagiert hast.«
»Zimperlich? Hallo? Seit zehn Jahren mache ich das Spiel schon mit…«
»Wenn es dir jemals ernst mit ihm gewesen wäre, wärst du damals nicht nach Amerika gegangen, um Profilerin zu werden. Nur deswegen hat er diese Kerstin geheiratet.« Isa war in ihrem Element und schien nicht mitzubekommen, dass sie gerade ein Nervenkostüm zertrampelte.
»Aber jetzt wird er Vater und die Sache ist ein für alle Mal geritzt. Also misch dich nicht in meine Angelegenheiten!«
Isa blieb ganz cool und holte zum Knock-out aus: »Er hat mich am Telefon gebeten, nach dir zu schauen, weil er sich Sorgen um dich gemacht hat. Für mich sieht das nicht so aus, als sei da zwischen euch irgendetwas ein für alle Mal geritzt.«
Wencke stand auf, flüchtete ins Bad und putzte sich die Nase. Das Heulen fing bei ihr immer mit Rotz an, dann kam das Wasser. Aber sie wollte nicht heulen. Wencke brauchte sich von ihrer ausgeflippten Mutter nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Ganz sicher nicht. Sie schnäuzte sich noch einmal. Es ging ihr immer noch mies.
Wie gut, dass sie sich gleich von hier verabschieden konnte. Glücklicherweise lag Island richtig weit weg von dem ganzen Mist.
Sie würde nur noch den Briefträger abwarten. Ungeduldig. Normalerweise kam der zwischen neun und zehn. Hoffentlich verspätete er sich nicht. Inzwischen rechnete Wencke fest damit, auch heute wieder eine Nachricht von Doro zu bekommen.
Urð
[Polizeischule Bad Iburg, Zimmer 247,
21. Januar 1994, Mittagspause]
Mußte eben auf die Polizeiwache und hab mit einer Kollegin gesprochen. Eigentlich wirklich eine Nette, aber die Ohren auf Durchzug. Schien mir überfordert, die Arme.
Kein Wunder, ganz Bad Iburg ist voller Reporter. Die schieben noch der ältesten Oma ein dickes Mikro unter die Nase und fragen Sachen wie: Haben Sie den kleinen Jan gekannt? Was sagen Sie dazu, daß in Ihrem kleinen Kurort ein so grausamer Mord geschehen konnte? Was meinen Sie, wie Karl Hüffart und seine Frau den
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