Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
Bilder und Inschriften zu begreifen, die aus sich selbst lebten und ihre Macht zum Mittelpunkt von Stille und Geheimnis schicken konnten – fern aller menschlichen Blicke.
Der Hohepriester hatte ihm einen unschätzbaren Gefallen erwiesen, dessen er sich würdig erweisen musste, indem er sein Herz den Worten der Götter öffnete.
Verglichen mit den stattlichen Wohnungen der Würdenträger im königlichen Palast wirkte Wahibras Dienstwohnung eher bescheiden und schlicht. Die Einrichtung war im Stil des Alten Reichs gehalten, also sehr nüchtern.
Henat begnügte sich mit einem unbequemen Stuhl ohne Kissen.
»Angesichts Eures Amtes und Ansehens will der König kein Aufsehen erregen, obwohl Ihr soeben einen sehr schweren Fehler begangen habt«, erklärte Henat mit ernster Stimme.
»Was wirft man mir vor?«, fragte der Hohepriester.
»Dass Ihr den Lügengeschichten eines Verbrechers Glauben schenkt, ihm Unterschlupf gewährt und den Gang der Gerechtigkeit behindert. Es ist allein der Nachsicht Seiner Majestät zu verdanken, wenn Ihr dafür nicht strengstens bestraft werdet.«
»Das scheint Ihr zu bedauern?«
»Ich führe nur die Befehle aus.«
»Ihr täuscht Euch aber, Henat. Der Schreiber Kel hat kein Verbrechen begangen, und es gibt sehr wohl eine Verschwörung, die das Ziel hat, Amasis zu stürzen. Indem Euch die Aufrührer Kel als Schuldigen anbieten, lenken sie Eure und Richter Gems Aufmerksamkeit ab.«
»Die Beweise für Kels Schuld sind erdrückend, und sein Verhalten bestätigt dies noch – auch wenn das gar nicht notwendig wäre. Euch geht es nur um irgendwelche Eindrücke und Gefühle. Ich kenne meine Arbeit, und Richter Gem kennt seinen Beruf. Wir haben schon mehr als eine Verschwörung vereitelt, und auch diese wird scheitern wie die anderen. Dieser Schreiber, Mörder und Unruhestifter wird festgenommen, er bekommt sein ordentliches Verfahren und wird verurteilt.«
»Glaubt Ihr nicht, die Bogenschützen werden ihn töten, ehe er sich vor Gericht verteidigen kann?«
»Das hängt ganz von seinem Verhalten ab. Es hat bereits zu viele Tote gegeben, und Seine Majestät will unter keinen Umständen das Leben unserer Männer aufs Spiel setzen.«
»Mit anderen Worten, die Geschichte soll vertuscht werden.«
»Ihr solltet Euren Ton mäßigen und mir angemessen begegnen«, riet ihm Henat.
Wahibra erhob sich.
»Geht jetzt«, sagte er eisig.
»Der Helfershelfer eines Mörders hat keine Befehle zu erteilen. Ab sofort steht Ihr unter Hausarrest und dürft diesen Tempel nicht mehr verlassen.«
»Ich mache mich sofort auf den Weg zum Palast.«
»Ich glaube, Ihr verkennt Eure Lage. Ich spreche im Namen des Königs.«
»Wenn mich der König empfängt …«
»Das wird er nicht. Solltet Ihr die Mauern des Neith-Tempels verlassen, werdet Ihr sofort festgenommen. Seine Majestät wünscht, dass Ihr Euch Euren Tempeldiensten widmet – ausschließlich. Ein besonderes Entgegenkommen, ich sagte es bereits. Die Feiern zu Ehren der Göttin Neith sollen Eure einzige Sorge sein. Falls Ihr Ungehorsam zeigt, dürft Ihr nicht mit Milde rechnen.«
Wahibra wurde zum Gefangenen in seinem eigenen Tempel.
»Wo habt Ihr diesen Mörder versteckt?«, fragte Henat und durchbohrte sein Gegenüber mit Blicken.
»Kel wollte sich durchaus nicht im Inneren des heiligen Reichs verbergen.«
»Morgen wird hier alles noch einmal gründlich durchsucht.«
»Wie Ihr meint.«
»Nachdem Ihr ihn schützt, wisst Ihr auch, wo er sich aufhält!«
»Kel hat mir nicht mitgeteilt, wohin er flüchten wollte. Aber er wird sich morgen Mittag mit mir in Verbindung setzen, bei der kleinen Pforte in der nördlichen Mauer.«
Henat unterdrückte ein Lächeln. »Na also, es geht doch … Umso besser! Wir wissen, dass der Mörder Unterstützung von einem Helfershelfer bekommt. Wisst Ihr, wer das ist?«
»Ich bin ihm nie begegnet.«
»Lasst Euch nicht zu weiteren Fehlern hinreißen«, empfahl ihm Henat, »und begnügt Euch mit Euren geistlichen Aufgaben.«
Die beiden Männer trennten sich ohne Gruß.
Angesichts dieses mächtigen Feindes und weil der König ihm sein Vertrauen entzogen hatte, waren Wahibra die Hände gebunden.
Warum also hörte er nicht auf, einem zu Tode Verurteilten seine Hilfe anzubieten?
Weil er an Kels Unschuld glaubte und keine Ungerechtigkeit ertragen konnte. Sie zu dulden, musste unweigerlich zur Zerstörung einer jahrtausendealten Kultur führen.
Selbst wenn man ihn mundtot machte, würde der Hohepriester nicht
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