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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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war wieder derselbe Loki, an den sich Andrej so gut erinnerte: ein breitschultriger Riese, fast so groß wie Abu Dun, aber härter, mit wettergegerbten Zügen und langem Haar. Er trug sogar die derbe Kleidung des Wikingers, in dessen Gestalt ihm Andrej das erste Mal begegnet war, und aus seinem Gürtel ragte nicht mehr der Griff eines spanischen Offizierssäbels, sondern Gunjirs Zwillingsbruder. Andrej hörte, wie Abu Dun hinter ihm schnaubend aus der Bodenklappe stieg, warf einen Blick über die Schulter zurück und stellte fest, dass Bresto doch noch da war, auch wenn er im ersten Moment fast Mühe hatte, ihn zu erkennen. Vermutlich lag er erst seit zwei oder drei Tagen im faulenden Wasser der Bilge, aber seine Züge waren dennoch bereits so aufgequollen und zugleich in Auflösung begriffen wie die einer Wasserleiche, die nach Wochen an den Strand gespült wurde. Loki musste ihm mehr genommen haben als nur sein Leben.
»War es nötig, ihn umzubringen?«, fragte er bitter. »Er war noch ein halbes Kind.«
»Du bist immer noch zu weich, Andrej«, seufzte Loki. »Ich werde dir wohl noch mehr Zeit geben müssen.« »Um dich umzubringen? Gib mir eine Minute, das reicht.«
»Es wäre doch peinlich gewesen, wenn sich der gute Subtentiente durch einen dummen Zufall selbst begegnet wäre, oder?«, fragte Loki amüsiert. Andrej wollte antworten, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. »Er tut dir leid, weil er noch so jung war. Das ehrt dich, aber es ist auch überflüssig. Lass uns dieses Gespräch in hundert Jahren noch einmal führen, und du hast vergessen, dass es ihn überhaupt einmal gegeben hat.« Abu Dun ließ den leblosen Körper des Jungen beinahe sanft zu Boden gleiten, trat dann an Andrejs Seite und richtete sich zu seiner vollen Größe von annähernd sieben Fuß auf. Seine Hand sank mit einem hörbaren Klatschen auf den Schwertgriff. »Kannst du uns beiden deinen Willen aufzwingen?«, fragte er.
»Das könnte ich«, antwortete Loki ernst. »Aber es wird nicht notwendig sein.« Er machte erneut eine knappe, aber dramatische Geste, wie ein Gaukler auf einem Marktstand, der sich der Aufmerksamkeit seines Publikums auch ganz sicher sein will, und hinter ihm traten zwei, drei, schließlich vier weitere Wesen aus dem Schleier zwischen den Realitäten. Auch sie flackerten, änderten ihre Gestalt immer wieder (die nicht immer menschlich war) und gerannen schließlich zu identischen Kopien eines einzigen Originals; vielleicht auch nur einer Idee. Jeder Einzelne von ihnen war so groß wie Abu Dun und hatte dieselbe, nachtschwarze Haut, war aber schlanker und in ein schlichtes, weißes Gewand gekleidet. Andrej überlegte einen kurzen Moment, ob dies nun die wahre Gestalt der Unsterblichen war, verneinte diese Frage aber auch sofort. Vielleicht hatten sie keine wirkliche Gestalt. Vielleicht waren sie nicht einmal Menschen.
»Und ich will es auch nicht«, fuhr Loki fort. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, dann über seine ganze Erscheinung, und ganz kurz standen sie fünf gleichartigen dunklen Geschöpfen gegenüber. Dann wurde Loki wieder zu Loki, nur dass er jetzt glatt rasiert war und nicht mehr den Fellumhang eines Wikingers trug, sondern eine britische Marineuniform. Wenn Andrej die Rangabzeichen auf seiner Jacke richtig deutete, dann war es die eines Admirals.
»Bist du denn sicher, dass diese Übermacht reicht, um mit uns fertig zu werden?«, fragte Abu Dun spöttisch. Andrej bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er seinen Säbel zu ziehen versuchte und es ebenso wenig konnte wie er.
»Ich will nicht mit dir kämpfen, mein Freund«, sagte Loki. »Und auch nicht mit dir, Andrej.«
»Das musst du auch nicht«, erwiderte Andrej. »Gib einfach meine Hand frei. Ich bestehe nicht darauf, dass du dich verteidigst.«
Loki lächelte. »Selbst wenn ich das täte, würde es dir nichts nutzen, Andrej«, sagte er. »Man kann uns nicht töten, versteh das doch endlich. Hast du es nicht oft genug versucht?«
»Einmal zu wenig«, antwortete Andrej.
Loki setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann jedoch den Kopf und seufzte nur. »Marduk, Ra«, sagte er. »Begleitet unsere Gäste bitte in ihr Quartiere und sorgt dafür, dass sie dort bleiben.«

22

A
    ndrej und Abu Dun brodelten vor Zorn, als sie von Marduk und Ra mit mehr als sanfter Gewalt zur Kapitänskajüte geleitet wurden. Dort erlebten sie eine weitere Überraschung: Die beiden Soldaten vor der Tür waren verschwunden, dafür saß Lady Esmeralda mit angezogenen

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