Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
übergangslos wieder ernst. »Wovon sprichst du, Hexenmeister?«
»Sie fliehen nicht«, antwortete Andrej. »Das würden sie tun, wenn sie wirklich Piraten wären, oder …« Er bedachte den Nubier mit einem kurzen, abschätzenden Blick und entschied dann, den Rest des Satzes für sich zu behalten. »Das sind englische Soldaten«, fuhr er stattdessen fort. »Mitglieder der besten Kriegsmarine der Welt. Sie fliehen nicht. Sie lecken ihre Wunden und wechseln gleichzeitig ihre Positionen, und danach schießen sie dieses Schiff genüsslich in Stücke.« Abu Duns Gesichtsausdruck nach zu schließen schien ihm diese Vorstellung nicht besonders zu gefallen. »Und wie viel Zeit bleibt uns noch?«, fragte er.
Andrej hätte, ohne zu zögern, seinen rechten Am für die Antwort auf diese Frage gegeben (oder zumindest den Abu Duns), aber er wusste es nicht. Er konnte nur raten. Die Schiffe waren beschädigt, und die EL CID jagte trotz allem noch immer in beeindruckendem Tempo dahin. Ihre Positionen zu tauschen und der flüchtenden Beute damit die unversehrten Flanken (und damit ihre Breitseiten) zuzuwenden, würde eine Weile dauern … aber nicht annähernd so lange, wie sie vermutlich brauchten, um Loki und die anderen zu finden und auszuschalten.
Er hob die Schultern. »Zehn Minuten«, vermutete er. »Vielleicht fünfzehn.«
»Und ich hatte Schlimmeres befürchtet«, seufzte Abu Dun. Er schüttelte den Kopf. »Du hast wirklich eine reizende Art, einen aufzumuntern.«
Andrejs Füße hatten aufgehört, feurige Speere bis in seine Hüftgelenke hinaufzuschießen, und er fühlte sich dazu in der Lage, weiterzugehen. Wenigstens ein paar Schritte. Er deutete nach links. »Dort entlang.«
Abu Dun grunzte zustimmend und ging weiter, und wie aus dem Nichts tauchte eine schlanke Gestalt in einer zerfetzten Uniform vor ihm auf, fast so groß wie der Nubier, aber nicht annähernd so massig. Er hielt einen Säbel in der Hand, den er ohne das geringste Zögern in Richtung von Abu Duns Kehle schwang, und der Nubier wiederholte sein missmutiges Grunzen, nahm ihm fast beiläufig den Säbel ab und versetzte ihm mit der anderen Hand eine so gewaltige Maulschelle, dass der Mann wie vom Blitz getroffen zusammenbrach.
»Nicht unbedingt das, was ich mir ausgesucht hätte«, sagte Abu Dun, während er den Offizierssäbel mit mehr Interesse betrachtete, als er für seinen eigentlichen Besitzer übrig gehabt hatte. »Aber man muss nehmen, was man kriegt, nicht wahr?«
Andrej deute noch einmal in die Richtung, in der er Loki und den anderen Unsterblichen vermutete. Nahe, aber vielleicht nicht nahe genug.
Den blutigen Fußabdrücken der beiden Unsterblichen folgend gingen sie weiter, eilten eine kurze Treppe hinab und traten geradewegs in die Hölle hinein.
Es war das obere Kanonendeck der EL CID – oder was es irgendwann einmal gewesen war. Jetzt war es ein Ort der Pein.
Brandgeruch erfüllte die Luft; nicht nur der Geruch von brennendem Holz und heißem Metall, sondern auch der von verschmortem Fleisch, ein allgemeines Wehklagen und Stöhnen und flackernder roter Feuerschein. Die Planken waren mit Blut und Asche und eingedrungenem Wasser bedeckt; alles hatte sich zu einer schrecklichen rosa Schmiere vereint, und überall flackerten kleine Feuer.
Andrej erfasste die Situation mit einem einzigen schnellen Blick: Das Kanonendeck war verheert. Mindestens ein Viertel der Geschütze war zerstört, aus ihren Halterungen gerissen und selbst zu tödlichen Geschossen geworden, die ihre Bedienungsmannschaften zermalmt oder verbrannt hatten. Etliche der Kanoniere waren von den Salven der KingGeorge getroffen worden, andere ihrem eigenen Rückstoß zum Opfer gefallen oder dem Splitterhagel ihrer eigenen Geschützklappen, durch den sie ihre Überraschungssalve abgegeben hatten. Mindestens ein Dutzend Männer war tot und sehr viel mehr schwer verletzt. Hände streckten sich ihnen entgegen und flehten sie um Hilfe an, die sie ihnen nicht geben konnten.
Es war nicht mehr zu unterscheiden, was die größere Verheerung angerichtet hatte – die Salven der King George und ihres Schwesterschiffes, oder Lokis erste, wahnsinnige Idee, das Feuer durch die geschlossenen Geschützklappen hindurch zu eröffnen, die sich daraufhin in einen tödlichen Splitterregen verwandelt hatten. So oder so, dachte Andrej bitter, bot das Kanonendeck der EL CID nicht den Anblick, den sich Loki für diesen Moment der Schlacht vorgestellt haben mochte. Und all dieser Schrecken war nichts gegen

Weitere Kostenlose Bücher