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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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bedächtig vor sich auf den Tisch legte. Es war der Stumpf des Dolches, mit dem das Mädchen ihn attackiert hatte. Andrej hatte ihn während des Kampfes nur flüchtig gesehen, aber abermals fiel ihm auf, wie zierlich die Klinge war – im Grunde nicht einmal eine richtige Waffe, sondern beinahe ein Spielzeug.
»Damit hat sie dich angegriffen?«
Andrej nickte und wollte die Hand nach dem Messergriff ausstrecken, doch Abu Dun schloss erschrocken die Finger um sein Handgelenk und hielt seinen Arm fest. »Das solltest du besser nicht tun.«
»Warum nicht?«
Abu Dun griff noch einmal unter den Mantel und zog einen schmalen, in einen Tuchfetzen eingeschlagenen Gegenstand hervor. Als er den Stoff – sehr vorsichtig, wie Andrej nicht entging – zurückschlug, kam der unbeschädigte Zwilling des zerbrochenen Dolches darunter zum Vorschein. Andrej wollte auch danach greifen, zog die Hand diesmal aber rasch zurück, als Abu Dun den Kopf schüttelte.
»Das solltest du besser nicht tun.«
Und Abu Dun sollte es ihm besser nicht verbieten, dachte Andrej, jedenfalls nicht in diesem Ton. Niemand im Raum konnte verstehen, was er sagte. Selbst Andrej hatte Schwierigkeiten, der seit unzähligen Generationen toten Sprache zu folgen. Dafür war sein erschrockener Tonfall umso beredter, und der Dolch war alles andere als unauffällig. Verständlicherweise hatte Andrej während des Kampfes nicht auf Details geachtet; dafür fiel ihm jetzt umso mehr auf, dass es sich um eine ausgesprochen kostbare Waffe handeln musste. Der Dolch war kaum breiter als zwei nebeneinandergelegte Finger und nicht mehr als sechs oder sieben Zoll lang. Die Klinge war auf beiden Seiten rasiermesserscharf geschliffen und spitz wie eine Nadel, und der schlanke Griff war nicht nur überaus kunstvoll ziseliert, sondern auch mit feinen Edelsteinsplittern besetzt.
Andrej griff nun doch – sehr behutsam – nach der Waffe, nahm sie an ihrem stumpfen Ende und betrachtete die feinen Gravurarbeiten eingehend. Der Dolch war ganz zweifellos ein Meisterstück, aber er hätte beim besten Willen nicht sagen können, welcher Kultur er entstammte. Bilder und Symbole wie diese hatte er noch nie zuvor gesehen. Doch er spürte, wie alt diese Waffe sein musste. Und ganz offensichtlich war er nicht der Einzige. Mehr als einer der anderen Gäste starrte Abu Dun und ihn – und vor allem den kostbaren Dolch – unverhohlen neugierig an, und in dem einen oder anderen Augenpaar stand auch Gier geschrieben.
»Ein schönes Stück«, sagte er. Abu Dun legte die Waffe vor sich auf den Tisch. Andrej fiel auf, wie sorgsam er darauf achtete, der Klinge mit den Fingern nicht nahe zu kommen. Erwartungsvoll sah er Andrej an, doch der fragte nur: »Und?«
»Es hat dem Mann gehört«, antwortete Abu Dun. »Jedenfalls lag er neben dem, was du von ihm übrig gelassen hast. Sie hatten beide die gleiche Waffe. Sonderbar, nicht?«
»Wahrscheinlich waren sie ein Team«, antwortete Andrej. »Vielleicht Bruder und Schwester. Oder ein Paar.«
»Eher Vater und Tochter«, sagte Abu Dun. »Weißt du noch, was du mir über das … Mädchen erzählt hast?« Andrej fragte sich, ob das kaum merkliche Zögern in Abu Duns Worten etwas zu bedeuten hatte, und wenn ja, was, nickte aber nur.
»Sie haben dich beide mit diesem Kinderspielzeug angegriffen«, sinnierte der Nubier. »Das finde ich seltsam. Das ist ein schönes Stück, aber mehr auch nicht. Ich würde es mir zweimal überlegen, selbst einen ganz normalen Menschen mit einem solchen Kinderspielzeug anzugreifen.«
»Aber sie hat es getan«, sagte Andrej nachdenklich. Allmählich glaubte er zu verstehen, worauf Abu Dun hinauswollte. Aber der Gedanke war einfach zu absurd. Trotzdem fuhr er fort: »Und das Mädchen hat sogar seine einzige Chance verschenkt zu entkommen, um mich damit in den Fuß zu stechen … was mich ja zweifellos auf der Stelle erledigt hätte«, fügte er mit einem schwachen Grinsen hinzu.
Abu Dun blieb ernst. »Wer weiß?«
Andrej blinzelte. »Wie meinst du das?«
»Wie geht es deinem Auge?«
»Es tut weh«, fauchte Andrej. »Und was hat das jetzt damit zu tun?«
»Und ganz offensichtlich«, antwortete Abu Dun in nachdenklich-spöttischem Ton, »beeinträchtigt es auch dein Denkvermögen, Hexenmeister. Es ist schade, dass von den Burschen keiner mehr lebt, die auf dich geschossen haben.«
»Das waren keine Vampyre«, sagte Andrej, »sondern nur ein paar Strauchdiebe und Halsabschneider.« »Oder du nicht wenigstens die Kugeln aufgehoben hast«,

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