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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Aber musste das so bleiben?
Etwas in Andrej weigerte sich immer noch, diesen Gedanken auch nur zu denken, aber dieser Zweifel an seinem Zweifel wurde bereits leiser. Er hatte immer gewusst, wie groß die Verlockung war, der so viele ihrer Art erlagen, und sich dagegen gefeit gewähnt. Aber das war ein Irrtum gewesen, dass wusste er spätestens seit dieser Nacht.
Es war nicht das erste Mal, dass er ein anderes Leben genommen und dessen Kraft seiner eigenen hinzugefügt hatte – aber der verbotene Trunk hatte noch nie so süß geschmeckt, und er hatte niemals zuvor und mit solcher Klarheit begriffen, wie unerschöpflich das Reservoir wirklich war, aus dem er nach Belieben schöpfen konnte, und welch kurzes Stück auf diesem Weg Abu Dun und er in Wahrheit erst gegangen waren.
Natürlich durchschaute er Lokis Plan, er war schließlich nicht dumm. Zweifellos hoffte er, Andrej ebenso verderben und auf seine Seite ziehen zu können wie so viele andere vor ihm. Andrej machte sich nichts vor: Er war nicht unbesiegbar, und auch er war nicht gegen alle Versuchungen gefeit. Vielleicht würde er am Ende der Verlockung unbegrenzter Macht erliegen, und vielleicht würde er zu genau dem werden, was er zeit seines Lebens gehasst und gejagt hatte. Aber vorher würde er Loki töten.
Es musste Mitternacht sein, als ihn Lärm aus der Gaststube aufhorchen ließ und das trunkene Johlen und Gelächter (darunter auch Abu Duns Stimme) aufgeregter wurde. Er hörte ganz in der Nähe einen Laut und war bereits auf den Füßen und griff nach seinem Schwert, als eine erschrockene Stimme sagte: »Ich bin es, Rodriguez. Bitte legt das Schwert weg, Andrej.«
Andrej fragte sich nicht, wie es dem Colonel gelungen war, sich unbemerkt nicht nur in den Stall, sondern sogar in seine improvisierte Schlafkammer zu schleichen. Vielleicht gehorchten ihm seine Sinne doch noch nicht so präzise, wie er es angenommen hatte. Er senkte auch Gunjir nicht, sondern wich nur einen halben Schritt zurück und maß die weißhaarige Gestalt unter der Tür mit misstrauischen Blicken. Als er etwas sagen wollte, hob Rodriguez die Hand und fuhr in plötzlich fast gehetztem Ton fort:
»Hört mir zu, Andrej. Uns bleibt nur sehr wenig Zeit. Bresto ist mit einer Abteilung Soldaten auf dem Weg hierher, um Euch und Euren Freund festzunehmen. Ihr solltet besser verschwinden.«
»Festnehmen?«, wiederholte Andrej. »Warum?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Rodriguez. »Der Befehl kommt direkt von de Castello, und ich glaube nicht, dass er einem einfachen Lieutenant eine Begründung für seine Befehle gibt.«
»Und einem Colonel?«, fragte Andrej.
Rodriguez zögerte, vielleicht nur einen kurzen Moment, aber trotzdem lange genug, um Andrej ahnen zu lassen, was er antworten würde, noch bevor er es überhaupt tat. »Nun, nach Brestos Worten … möchte er mich ebenfalls sprechen.«
»Sprechen?«
»Er hat mich zu einer Unterredung einbestellt«, antwortete Rodriguez. »Ein charmantes Wort für Verhaftung, nehme ich an. Und bevor Ihr fragt: Ich weiß nicht, warum.«
»Wenn das so ist, dann bin ich vielleicht nicht der Einzige, der von hier verschwinden sollte«, sagte Andrej. »Um de Castello den Vorwand zu liefern, nach dem er sucht, um mich tatsächlich in Ketten legen zu lassen?« Rodriguez lachte hart. »Gewiss nicht. Macht Euch keine Sorgen um mich, Andrej. Ich habe keine Angst vor de Castello.«
Weil du nicht weißt, wer er wirklich ist. Eine halbe Sekunde lang dachte er daran, es ihm zu sagen, entschied sich aber auch sofort dagegen. Wenn de Castello wirklich Loki war, dann würde er seine Gedanken lesen, was praktisch Rodriguez’ Todesurteil bedeuten würde. Besser, er wusste so wenig wie möglich. »Wir müssen Abu Dun warnen«, sagte er.
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Rodriguez mit einer Kopfbewegung in die Richtung, aus der noch immer Stimmen heranwehten, so aufgeregt, als stünde ein Kampf kurz bevor.
»Nein, wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. Rodriguez sah ein wenig irritiert aus – vielleicht fragte er sich, warum er nicht einmal eine Spur von Sorge um seinen Freund zeigte –, trat dann aber ohne ein Wort wieder in den Stall zurück und bedeutete Andrej, ihm zu folgen. Der bückte sich nach seinem Waffengurt, schob Gunjir in die Lederscheide und band sich den einfachen Gürtel um, während er dem Colonel durch den dunklen Stall folgte. Die meisten Pferde schliefen im Stehen. Nur einige wenige Tiere reagierten mit einem unwilligen Schnauben oder

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