Göttersturz, Band 1: Das Efeumädchen (German Edition)
um eine Stadt auf diese Weise zu schleifen«, sagte er zu Mellio, der gleich hinter ihm ritt. »Kaum vorstellbar, dass Orchon dies innerhalb weniger Augenblicke getan haben soll.«
Der Wissenschaftler entließ gedehnt die Luft aus seinen Lungen. »Und denkt Ihr immer noch, der Weltendroher würde uns nur etwas vorgaukeln?«
Vor seinem inneren Auge stellte sich Corellius vor, Sichelstadt würde auf dieselbe Weise verwüstet werden. All das Leid, all der Tod. Das wollte er tatsächlich in Kauf nehmen, nur um das Leben eines einzigen Mädchens zu retten? Er seufzte. »Nein – wie ich sagte, beim Kartenspielen habe ich nur selten gewonnen.«
Ulme schnaufte verwundert. »Gegen mich haste immer gewonnen.«
»Ja, weil du sofort ein breites Grinsen aufsetzt, sobald du mal ein gutes Blatt hast. Ganz abgesehen davon, dass du ständig vergisst, die Karten vor mir zu verdecken.«
»Ist auch ein kompliziertes Spiel«, sagte Ulme und streichelte die Mähne seiner Lenya.
Mellio lachte auf. »Wenn es mit dem Söldnerleben einmal nicht mehr klappt, solltet ihr auf Jahrmärkten auftreten und euch für eure Wortgefechte mit Binaren bewerfen lassen.«
»Mein Bedarf an Leuten, die über mich lachen, ist in den letzten Tagen zur Genüge gedeckt worden«, knurrte Corellius.
»Und die haben nicht mal was dafür gezahlt«, fügte Ulme hinzu, der an der Geschäftsidee Gefallen zu finden schien.
Die Hauptstraße mündete in einen Marktplatz, der die Ausmaße eines Schlachtfelds hatte. Wo einst um Gewürze, Sklaven und Schmuck gefeilscht worden war, spross nun Nomadenfarn zwischen Geröllhaufen hervor.
Ein Schwarm Blutkrähen flatterte unter heiseren Rufen davon, als sie den Platz überquerten; die ersten Lebewesen, die sie in dieser Stadt antrafen. Corellius verfolgte den Flug der Vögel. Sie stiegen mit gleitenden Flügelschlägen zum Glockenturm des Rathauses empor, das auf der gegenüberliegenden Seite des Marktes thronte. Mit seinen hohen Bogenfenstern und dem Turm, dessen Schatten über den ganzen Platz reichte, war das Bauwerk ein Symbol für den Reichtum der Stadt gewesen. Jetzt überzogen Löcher und Risse die Turmmauern, sodass es aussah, als könne er jederzeit in sich zusammenstürzen. Die Glocken waren vor langer Zeit herabgestürzt und hatten dabei eine Schneise durch die Treppe vor dem Rathaus gezogen.
»Wisst Ihr, was man sich erzählt?«, fragte Mellio, der Corellius' Blick gefolgt war.
»Nein, aber ich werde es wohl gleich erfahren.«
»Es ist nur ein alberner Aberglaube, den sich einst ein verwirrter Geist erdacht haben muss. Trotzdem …«
Weiter kam er nicht.
Der Rathausturm rührte sich. Putz bröckelte, Ziegel krachten aneinander und Holzplanken ächzten.
Erst dachte Corellius, der Turm würde nun nach all den Jahrhunderten zusammenstürzen.
Aber das tat er nicht. Er beugte sich herunter, wie ein Pferd sein Haupt senkte, von einer seltsamen Lebendigkeit durchflossen, die ihn aufrecht hielt. Beinahe so, als hätte dieses Gemäuer ein Knochengerüst und Muskelstränge.
Schien das Glockenfenster nicht wie ein Mund? Und die Schießscharten zu beiden Seiten darüber nicht wie wütend verengte Augen? Corellius war so gelähmt, als hätte ihn eine Natter gebissen. Was – bei Orchons Macht – war dieser Wahnsinn?
Das Turmgesicht ruhte genau über ihnen. Sein Schatten spannte sich um die gesamte Eskorte. Niemand rührte sich oder gab auch nur einen Laut sich, selbst dieser Geck von Asht nicht.
»Das ist es, was ich Euch sagen wollte, Meister Adanor«, flüsterte der Orchologe Mellio in die Stille hinein. »Hier in Westheim soll etwas bei Orchons Wüten geschehen sein. Stadt und Bewohner sind zur gleichen Zeit ausgelöscht worden. Dabei sind die Abläufe von Leben und Sterben durcheinandergeraten. Manche der Bewohner sind hiergeblieben, eins geworden mit ihrer Stadt.«
Beklommen starrte Corellius zu dem Turm hinauf. Das Gebäude bewegte sich sogar rhythmisch auf und ab, beinahe so, als würde es atmen. »Aber Städte können doch nicht leben!«, raunte er.
»Doch«, erwiderte Mellio. »Und sie können sterben wie Menschen. An Schwäche, wenn sie von brandschatzenden Horden geplündert werden, an Durst, wenn der Fluss vertrocknet, an dem sie liegen. Manche am Fiebertod, wenn eine Seuche in ihr wütet, oder eben durch die Macht eines Gottes.«
»Weeer seeeid Ihr?«, grollte der Turm. So tief und langgezogen, dass seine Stimme mehr wie das Dröhnen einer Gerölllawine klang, nicht im Entferntesten menschlich.
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