Göttersturz, Band 1: Das Efeumädchen (German Edition)
Die Fensteraugen blinzelten.
Niemand antwortete. Alle Augenpaare richteten sich auf Corellius. Aha, dachte er, in der Stunde der Not sehen sie mich auf einmal doch als Führer dieser Eskorte. Er seufzte, wählte jedes Wort mit Bedacht. »Wir sind die Eskorte, die das Efeumädchen zum mächtigen Gott Orchon geleiten soll.«
Das Glockenfenster schloss und öffnete sich krachend. Wie bei einem Menschen, der die Zahnreihen aufeinander malmte. »Orchon! Er hat uns ausgelöscht. Ein gleißender Lichtblitz. So heiß, dass die Asche der Verbrannten als Schattenrisse noch immer an den Wänden klebt. Manche sind noch in den Fluss gesprungen, aber im brodelnden Wasser gekocht worden.«
Mellio hatte Recht. Auf eine sonderbare Weise mussten sich Stadt und Bewohner zu diesem vielstimmigen Wesen vereinigt haben. Besonders wohlgesinnt schien es ihnen nicht zu sein. Sie mussten hier weg. Schleunigst.
»Wir wandeln durch die Finsternis«, sprach der Turm weiter. »Gefangen in Schutt und Stein, in Holz und Marmor. Der Tod hat uns vergessen. Und ihr wollt Orchon, der uns all dies angetan hat, eine Jungfrau bringen?«
»Orchon bringen wir dieses Opfer nur, damit unsere Heimatstädte nicht dasselbe Schicksal ereilt wie die eure.« In Corellius' Kopf pochte es. Wie konnte er dieses Wesen besänftigen? Verdammt, er verstand sich auf eine flinke Klinge, nicht auf eine flinke Zunge.
»Wenn er droht, euch zu vernichten, warum bekämpft ihr ihn dann nicht?« Bei jedem Wort bröckelte Putz.
»An euch sieht man ja, was geschieht, wenn man sich ihm widersetzt.« Corellius biss sich auf die Unterlippe. Die Worte waren seinem Mund entfleucht, ehe er recht über sie nachdenken konnte.
Das Turmwesen gab ein Geräusch von sich, das wie die Vermählung von Hirschröhren und Steinschlag klang. »Wir haben für unsere Freiheit gekämpft und dafür den Preis bezahlt. Wir sind eingestanden für dieses Land. Ihr hingegen seid Feiglinge, eine Herde Schafe, die hinter einem unschuldigen Mädchen in Deckung geht.«
Der Zeremonienmeisterwollte etwas erwidern, anscheinend erbost über diese frevelhaften Worte. Wenn er so unerschrocken war, hätte der Greis lieber mit ihrem steinernen Freund reden sollen.
Basterros Wutrede ging in ohrenbetäubendem Krachen unter. Die langgestreckten Giebeldächer zu beiden Seiten des Turms brachen von den Gebäuden unter ihnen los. Wie die Arme eines gerade Erwachten streckten sie sich in die Höhe, die Finger bestehend aus aneinandergehefteten Schindeln.
»Ihr fürchtet euch vor dem Tod. Lasst uns euch zeigen, dass er nicht schlimmer ist als das Leben. Wir wissen es. Schlimm ist nur das dazwischen.«
Damit war die Unterredung wohl beendet.
Die Dachfinger griffen nach einer der Glocken, die zu Füßen des Rathauses lagen. Hoben sie so mühelos hoch wie ein Mensch einen Apfel.
Für einen Moment blieb Corellius wie erstarrt stehen.
»Flieht!«, brüllte er schließlich, erst verhalten, dann aus voller Kehle. »Flieeeht!«
Dabei musste er sich selbst erst mal dazu aufbringen. Er riss sich von dem monströsen Anblick los und wandte sein Ross.
Kurz verschaffte er sich einen Überblick über den Rest der Eskorte. Vor Panik wiehernd, preschten die Zugpferde der Efeukutsche los. Diejenigen der Wachen, die zu Pferd saßen, schlossen schnell zu ihr auf. Die übrigen und die Knechte rannten ihnen unter Schreien nach. Manche von ihnen schleuderten ihre Waffen und Rüstungen fort, um schneller zu sein.
Nur Ulme blieb in diesem Getümmel ruhig neben Corellius. Er und sein Pferd Lenya hatten zu viele Schlachten gesehen und zu viel Kanonendonner gehört, um gleich die Nerven zu verlieren.
»Soll'n wir ihnen mal hinterher?«
»Keine schlechte Idee«, sagte Corellius. Sie trabten hinter den Versorgungswagen und bildeten so die Nachhut.
Dröhnendes Läuten. Jemand schrie.
»Aaachtung!«, drang ein Ruf heran.
Corellius wandte den Blick. Seine Augen weiteten sich. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Das Turmwesen hatte die Glocke geworfen. Sich um die eigene Achse drehend, trudelte sie genau auf Ulme und ihn zu.
»Ulme! Weg!« Beinahe überschlug sich seine Stimme.
Der Schatten der Glocke hing genau über ihnen.
Sie rammten den Pferden die Hacken in die Seiten und galoppierten zu beiden Seiten davon. Im nächsten Augenblick erklang das Bersten von Holz, Wiehern und schrille Schreie; auf groteske Weise unterlegt vom letzten Läuten der gefallenen Glocke.
Der Versorgungswagen , durchfuhr es Corellius.
Wie ein Mahnmal lag
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