Göttertrank
dem Moment verstärkte sich der Krampf, der ihn gepackt hielt. Er drehte sich um seine eigene Achse, fiel gegen meine Brust, und das Messer fuhr ihm in den Hals. Die Schlagader war getroffen, und sprudelnd quoll das Blut aus dem Schnitt.
Jan Martin war schnell. Er packte seinen Freund, versuchte, an die Wunde zu kommen, aber noch einmal krampfte Gilbert sich zusammen und brach dann in die Knie.
»Mord!«, kreischte Dorothea. »Die hat ihn erstochen! Holt die Gendarmen!«
Ich stand wie gelähmt an der Vitrine, das blutige Messer in der Hand, der Tote zu meinen Füßen. Die Augen aller ruhten auf mir.
»Ein Unfall!«, rief Jan Martin. »Es war ein Unfall.«
»Das wird die Polizei klären!«, polterte Oberst von Macke und stürzte zum Ausgang.
Ich hatte viel Zeit, über den Vorfall nachzudenken. Die Büttel holten mich noch in derselben Stunde ab und nahmen mich in Untersuchungshaft. Mich traf keine Schuld an Gilberts Tod, doch ich war so fassungslos und entsetzt, dass ich kein einziges Wort über die Lippen gebracht hatte. Tagelang war ich gefesselt in meiner Trauer. Mit geschlossenen Augen, die Arme um die Knie geschlungen, hockte ich auf meiner Pritsche und wiegte mich selbst hin und her. Die trostlose Umgebung nahm ich überhaupt nicht wahr. Ich hatte den jungen Plantagenerben sehr gemocht. Verliebt war ich vielleicht nicht in ihn, aber ich hatte bemerkt, dass er auf dem besten Wege war, sich mir zu erklären. Ja, ich hatte sogar in einigen Nächten mit dem Gedanken gespielt, seinen Antrag anzunehmen. Einen gewissen Reiz barg diese Möglichkeit. Jan Martins und seine Schilderungen der tropischen Insel, dem weitläufigen Herrenhaus, der entspannten Lebensart hatten mich angesprochen. Und Trinidad lag auch weit genug entfernt von meiner Heimat. Der Standesunterschied mochte dort nicht so gravierend sein wie hier. Zumindest hatte Gilbert wohl diesbezüglich wenig Bedenken. Aber eine Entscheidung hatte ich noch nicht getroffen, und nun hatten die Umstände sie mir abgenommen. Ich trauerte unsäglich um den guten Freund, der von dem Messer in meiner Hand getötet worden war. Über das, was mit mir nun geschehen würde, darüber konnte ich einfach noch nicht nachdenken. Man hatte mich befragt, barsch und unfreundlich und unter der eindeutigen Annahme, ich hätte Gilbert de Valmont wissentlich und willentlich erstochen. Ich gab so gut wie keine Antworten, verstört, wie ich war. Und wegen dieser Verwirrung, die mir logisches Denken so schwermachte, war ich auch nicht überrascht, als am dritten Tag eine tief verschleierte Dame die Zellentür öffnete und eilig hinter sich schloss.
»Schnell, Amara. Zieh das hier an!«
»Was?«
»Ich bin’s, Melli. Los, schnell, schnell!«
Melisande nestelte schon an ihrem Kleid und streifte es sich über die Schultern.
Irritiert beobachtete ich ihre Freundin.
»Wie bist du...?«
»Psst. Wir haben den Wärter betäubt und ihm die Schlüssel geklaut. Mach schnell.«
Irgendwie gelang es mir, in das schwarze Kleid zu kommen und mir den Hut mit dem langen Kreppschleier aufzusetzen. Melli, die unter dem Witwengewand ein grellrot gestreiftes Kleid trug, hakte mir mit flinken Fingern den Verschluss am Rücken zu.
»Ich erklär es dir gleich. Nun komm. Wenn jemand Fragen stellt, lass Ella antworten.«
Es war ein reines Schelmenstückchen, das Melisande und Nadina ausgeheckt hatten. Das erfuhr ich, als wir in der geschlossenen Kutsche saßen und über die Berliner Chaussee ratterten. Nadina hatte zwar den Vorfall im Gastraum nicht mitbekommen, doch sie glaubte nicht an einen Mord. Aber sie hatte ein tiefes Misstrauen den Behörden, der Justiz im Besonderen, gegenüber, daher war ihr als einzige Lösung eingefallen, mir zur Flucht aus dem Gefängnis zu verhelfen. Es wäre klüger gewesen, sie hätte einen Anwalt mit meiner Verteidigung beauftragt, aber die Idee war ihr nicht gekommen. Darum hatten sie sich das Verwechselspiel mit den Kleidern einfallen lassen, und Melli war, als Witwe ausgestattet und mit Ella als Dienstmädchen im Schlepptau, zum Gefängnis gegangen, wo sie unbedingt ihren Schwager, einen der Constabler, um einen dringenden Rat bitten wollte. Sie hatte dem armen Mann an der Pforte eine solche Leidensszene vorgespielt, dass der froh war, als die Tränenüberströmte mit dem dumpfen Geschöpf an ihrer Seite endlich in dem Gebäude verschwunden war. Hier hatte sie den Zellentrakt aufgesucht und wiederum dem Wärter eine Jammerszene vorgelegt. Als er sich über das
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