Göttertrank
niedergelassen hatten, berichtete er weiter von der Schlacht bei Waterloo, seinem Weg über Colchester nach London, von der Fabrik, von dem Ingenieur Harvest, von Dettering und Egells in Berlin. Von seiner gescheiterten Ehe, von Elberfeld, Jülich und schließlich Köln. Seine Familie unterbrach ihn selten. Der lautlose Diener brachte den Teewagen herein, zündete die Lampen an den Wänden an und verschwand wieder auf leisen Sohlen. Erst als Alexander geendet hatte, kamen die Fragen. Er bemühte sich, sie so gut und so ehrlich wie möglich zu beantworten, aber er merkte, wie erschüttert vor allem seine Mutter von seinen Berichten war.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich Euch für heute verlasse, Herr Vater. Sie werden den Wunsch haben, sich untereinander darüber auszutauschen, was Sie von mir gehört haben.«
»Kommt nicht infrage, Junge. Das Mädchen hat dein Zimmer schon gerichtet, und Martin kann dein Gepäck abholen. Aber wir müssen uns alle für eine Weile besinnen, das stimmt. Julius, führe deinen Bruder nach oben.«
Was anfangs leicht zu sein schien, weil es so viel zu erzählen gab, wurde nach einer Woche plötzlich schwieriger. Nun war alles berichtet, was sich während ihrer Trennung ergeben hatte, und auch die tagesaktuellen Geschehnisse waren abgehandelt worden. Aber um Meinungen, Anschauungen und Gefühle auszutauschen, um über die inneren Anliegen, die jeden von ihnen bewegten, zu sprechen, dazu waren sie einander noch zu fremd. Zu sehr versuchten sie, konfliktbehaftete Themen zu vermeiden, um keinen Streit hervorzurufen, wie er in einer eng vertrauten Familie auch dazugehörte. Dazu kam, dass weder Alexander noch der General und auch nicht seine stets beherrschte Mutter darin geübt waren, ihr Herz auf der Zunge zu tragen. Am ehesten kam Alexander noch mit seinem Bruder zurecht, doch auch hier gab es Schranken, die nicht ohne weiteres aufzuheben waren. Sie waren Fremde, und das Privatleben Fremder, so war ihnen allen von Anbeginn an anerzogen worden, war um jeden Preis zu respektieren. Es war Rücksichtnahme, nicht Stolz oder Arroganz, die ihrer vertraulichen Unterhaltung Zügel anlegte. So drehten sich die gemeinsamen Gespräche am Abend intensiv um das Wetter, die Befindlichkeiten der Gutsbewohner, das bevorstehende Weihnachtsfest oder die Qualität des dunklen Rotweins.
Es war Linda, die am zehnten Abend endlich das Eis brach. Sie hatte bisher zumeist still zugehört, manchmal eine treffende Bemerkung gemacht und offensichtlich weit mehr erfasst als ihre Schwiegereltern, ihr Mann und sein Bruder. Wieder einmal wurde erschöpfend der eisige Wind und der erwartete Schneefall behandelt, als sie in eine der beklemmenden Gesprächspausen hinein sagte: »Eine gepflegte Konversation wird in dieser Familie betrieben. Manchmal habe ich den Eindruck, mich mitten in einem Buch mit Anstandsregeln zu befinden. Sie sind alle miteinander äußerst geschickt darin, Oberflächlichkeiten zu behandeln. Nur frage ich mich, wieso derart intelligente und weitblickende Menschen das Bedürfnis haben, sich in höflichen Seichtheiten zu ergehen.«
»Linda, Liebes, wie meinen Sie das?«, fragte Lady Henrietta mit leicht hochgezogener Braue.
»Nicht beleidigend, liebe Frau Mutter. Ich denke nur, wenn ich mir diese Runde hier so betrachte, dann könnte ich mir fast wünschen, dass so das Kabinett des Königs zusammengesetzt wäre.«
»Meine Liebe, soll das eine Majestätsbeleidigung werden?«, fragte sie Julius mit einem spöttischen Zwinkern.
»Oh, nein, auf gar keinen Fall. Aber seht, das Wissen, die Erfahrung und die Ansichten eines jeden, der hier sitzt, sind so vielseitig, dass sie im Zusammenspiel der Kräfte viele unserer politischen Probleme lösen würden.«
Alexander betrachtete seine Schwägerin mit neuem Interesse. Sie war keinesfalls nur ein Bücherwurm, das hatte er schon bemerkt. Sie war eine sehr unabhängige Denkerin, die einen scharfen, analytischen Blick hatte.
»Das ist eine bemerkenswerte These, Linda. Erläutere sie näher«, forderte er sie daher auf.
»Nun, wir haben einen Vertreter des hohen Militärs unter uns, einen jungen Diplomaten mit politischen Ambitionen, eine Dame, die sich in der Wohlfahrt und im Haushaltswesen bestens auskennt, einen fortschrittlichen Ingenieur und Wissenschaftler und, nicht zu vergessen, einen echten Blaustrumpf. Ich dachte, statt des Wetters könnten wir mal einige Worte über das Dilemma der Kinderarbeit verlieren, zumal wir einen Mann unter uns
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