Göttertrank
Nur ich selber bins nicht wieder,
Bin verändert heimgekehret.
Die Heimkehr, Heine
Die Reise quer durch die deutschen Lande Mitte November war eine reine Strapaze. Zwar fuhr die Eilpost zwischen Köln und Berlin auf einigermaßen ordentlich gehaltenen Straßen und brauchte gewöhnlich nur vier Tage, aber das galt natürlich nicht bei Schneesturm und Unwetter. Und schon überhaupt nicht mehr komfortabel gestaltete sich die Fahrt zwischen Berlin und Wittstock. Verschlammte Wege, umgestürzte Bäume, erschöpfte Pferde und zu guter Letzt auch noch ein Achsbruch der gemieteten Kutsche brachten Alexander fast an den Rand der Verzweiflung. Dazu kam die erzwungene Untätigkeit, denn weder in dem schwankenden, holpernden Gefährt noch in den lauten, zu dieser Jahreszeit entweder zugigen oder völlig verrauchten Posthaltereien war es möglich, sich irgendwie sinnvoll zu beschäftigen. Zwar hatte er sich einen Reisesekretär mitgenommen, aber diese zum Schreibtisch ausklappbare Schatulle auf den Knien zu schaukeln, während die Kutsche durch die vom Schneeregen aufgeweichten Fahrspuren schlingerte, förderte eine leserliche Handschrift nicht gerade, und erst recht machte es komplizierte Konstruktionszeichnungen unmöglich. Blieb also Lektüre oder stumpfsinniges Aus-dem-Fenster-Starren übrig. Das aber wiederum führte Alexanders Gedanken in nicht eben ersprießliche Richtungen, was Ziel und Zweck seiner Reise anbelangte. Er war Cornelius Waldegg höchst dankbar, dass er es übernommen hatte, den Grafen von Massow über seine Begegnung mit ihm zu unterrichten. Als ehemaliger Kriegsberichterstatter konnte der eine distanziertere Darstellung der Ereignisse vornehmen, als es ihm selbst möglich gewesen wäre. Die Antwort des Grafen war entsprechend zurückhaltend gewesen, aber er hatte eine Einladung an den ihm unbekannten Überlebenden der Schlacht bei Waterloo, der möglicherweise sein Sohn sein konnte, ausgesprochen. Alexander nahm es ihm nicht übel, dass er nicht in überschwänglichen Jubel ausgebrochen war. Es gab genug Glücksritter und Hochstapler, die genau solche Situationen ausnutzten, um sich Titel und Vermögen zu erschleichen.
Jetzt, nach zwei Wochen zermürbender Fahrt, hatte er sein Ziel fast erreicht. Diese Nacht noch würde er im Gasthaus verbringen. Er hatte nach Evasruh ein Billet geschickt, das seine für den kommenden Tag zu erwartende Ankunft ankündigte.
Man erwarte ihn am frühen Nachmittag, war die kurze Antwort.
Beklommen kleidete er sich am nächsten Mittag in einen korrekten Besuchsanzug – helle Pantalons, dezent gemusterte Weste und dunkelgrauen Redingote. Er neigte nicht zu modischem Schnickschnack, weshalb seine Krawatte einfach und sein Zylinder mäßig hoch waren, doch er legte Wert auf feine Stoffe und perfekte Verarbeitung. Alexander Massow, Ingenieur und Geschäftsmann, trat als wohlhabender Bürger den Besuch bei seinen adeligen Eltern an.
Er erkannte das weiße Gutshaus sofort wieder, auch wenn die winterlich laublosen Eichen der zum Portal führenden Allee höher geworden schienen und die Hecken sich dichter um das Anwesen schlossen. Kein Zweifel, hier war er aufgewachsen, hier hatte er die ersten neun Jahre seines Lebens verbracht. Dort hinten standen die Ställe und die Remise, in denen er mit Julius seine Jungenstreiche ausgeheckt, weiter hinten lag der kleine Teich, in dem er seinen ersten Fisch geangelt hatte, dort war das Gatter, über das er bei einem tollkühnen Sprungversuch kopfüber vom Pferd gefallen war.
Er ließ die Kutsche auf der langen Zufahrt anhalten und ging die letzten Schritte zu Fuß weiter. Vielleicht um Zeit zu schinden, vielleicht, um sich zu fassen.
Die Tür öffnete sich, noch bevor er die Stufen erreicht hatte, und ein grauhaariger Mann in Generalsuniform musterte ihn von oben herab.
»Herr Masters, nehme ich an?«
»Alexander Masters, zu Ihren Diensten, Euer Gnaden.«
»Treten Sie ein.«
Alexander schritt über die Schwelle und nahm den Zylinder ab. In der weitläufigen Eingangshalle wartete eine schlanke, grauhaarige Dame in einem eleganten, violetten Kleid, sonst jedoch niemand. Auch sie sah ihn eindringlich an.
»Lady Henrietta!« Alexander verbeugte sich tief vor ihr. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und hob ein silbergefasstes Lorgnon an ihre Augen. Es vergingen schweigend Minuten, während denen er von den unterschiedlichsten Gefühlen bewegt wurde. Schmerzliches Wiedererkennen, Verwunderung, Angst – und zuletzt
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