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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Sehnsucht. Sie war seine Mutter. Älter, viel älter, als er sie in seinen Träumen gesehen hatte. Doch sie war es noch immer, und er hatte sie einst so sehr vermisst. Aber dreiundzwanzig Jahre waren vergangen, die Trauer um den verlorenen Sohn sicher lange verblasst. Konnte es für sie überhaupt noch einen Grund geben, den fremden Mann, der er jetzt war, mit Freude willkommen zu heißen?
    »Alexander«, sagte sie leise. »Alexander, mein Sohn.«
    »Ja, Frau Mutter, Ihr Sohn.«
    Wieder betrachtete sie ihn eingehend, schweigend, mit gesammelter Miene. Er ließ es geschehen, obwohl er sie gerne berührt hätte. Trotz ihrer Beherrschung wirkte sie zerbrechlich, verletzbar.
    »Es ist so lange her. Du warst noch ein Knabe. Ich weiß nicht recht...«
    »Es ist auch für mich nicht leicht, Frau Mutter. Wir sind sehr unterschiedliche Wege gegangen. Wenn Sie es wünschen, verlasse ich Sie umgehend wieder.«
    »Nein!«, fuhr der Graf dazwischen und nahm seine Frau am Ellenbogen. »Wir werden jetzt wie zivilisierte Menschen in den Salon gehen und unserem Gast eine Erfrischung anbieten. Kommen Sie, Herr Masters.«
    Der Graf war ganz offensichtlich weit weniger geneigt, ihn als seinen Sohn anzuerkennen, als Lady Henrietta.
    Alexander betrat mit den beiden Herrschaften den hellen Raum, den ein Kaminfeuer erwärmte, und wartete höflich, bis seine Mutter auf dem Kanapee Platz genommen hatte.
    »Sherry, Whisky, Madeira?«
    »Sherry bitte.«
    Der Graf reichte ihm das Kristallglas und wies auf einen Sessel neben dem Feuer.
    »Keine angenehme Zeit zu reisen. Sie haben dennoch die Mühe auf sich genommen, uns in dieser abgelegenen Gegend aufzusuchen. Was versprechen Sie sich davon, Herr Masters?«
    »Victor!«, mahnte Lady Henrietta leise.
    »Sie stellen die Frage völlig zu Recht, General von Massow. Es muss Ihnen schwerfallen zu verstehen, warum ich mich nicht schon früher gemeldet habe. Zumindest hätte ich, als ich von Waldegg die näheren Umstände unserer Trennung bei Plancenoit erfuhr, Kontakt aufnehmen müssen. Doch ich kann nur eines zu meiner Entschuldigung anführen – ich habe mich geschämt, Ihnen unter die Augen zu treten.«
    »Eine eigenartige Formulierung. Und nicht das, was ich hören wollte. Sie behaupten, Alexander von Massow zu sein, der ohne jeden Zweifel am 18. Juni 1815 vor meinen Augen den Tod fand.«
    »Ohne jeden Zweifel. Natürlich. Und für mich starb ohne jeden Zweifel mein Vater, der Oberst von Massow, vor meinen Augen auf demselben Schlachtfeld. Ich habe bis vor zwei Jahren geglaubt, ich hätte Ihren Tod verursacht, weil der Junge, der meinen Anzug trug, Ihre Aufmerksamkeit vom Kampfgeschehen ablenkte, und Sie deshalb ein Geschoss in die Brust traf. Gleich darauf wurde ich getroffen und verlor das Bewusstsein. Und hinterher das Gedächtnis für lange Zeit.«
    Lady Henrietta hatte die Augen geschlossen, hielt sich aber aufrecht, und nur das Glas in ihrer Hand zitterte unmerklich.
    »Wir hätten nach dir suchen müssen. Es war leichtgläubig, anzunehmen, dieser Junge sei unser Sohn«, flüsterte sie, als ob sie ihrer Stimme nicht recht traute.
    Der General wanderte zum Fenster, schaute in den trüb verhangenen Tag hinaus und ging dann wieder zurück, um sich an den Kaminsims zu lehnen.
    »Ja, ich bin in diesem Moment getroffen worden, ein Projektil traf meine linke Schulter. Doch das haben eine ganze Reihe von Leuten beobachtet. Ich frage Sie noch einmal, Herr Masters. Was versprechen Sie sich von diesem Besuch?«
    »Gewiss kein gemästetes Kalb. Keine finanzielle oder wie auch immer geartete Unterstützung, keine Empfehlungen an höherer Stelle, keine Privilegien. Und erst recht keinen Anspruch an einen Titel oder ein Erbe. Ich habe mein Leben selbst gestaltet, General von Massow, wenn auch nicht immer mit den vorbildlichsten Mitteln. Ich bin unabhängig und in meinem Fachgebiet angesehen. Ich bin gekommen, um meine Mutter und meinen Vater wiederzusehen. Und meinen Bruder zu treffen.«
    Lady Henrietta stand mit einem Mal energisch auf und bat: »Alexander, komm her.«
    Gehorsam erhob er sich und stellte sich neben sie, so dass er sie beide in dem leicht geneigten venezianischen Spiegel über dem Kamin sehen konnte.
    »Victor, sieh es dir an.«
    Auch der Graf trat vor, und Vater und Sohn blickten in das Glas.
    Der General war mit seinen einundsechzig Jahren ein Mann von aufrechter Haltung, markanten Zügen und kühl blickenden Augen. Seine ergrauten Haare trug er kurz geschnitten, doch sie waren noch voll

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