Göttertrank
beobachten, die die Wesermündung ansteuerten. Fischerboote waren es zumeist, kleine Trawler, die ihren Fang nach Bremen brachten, Küstenfahrer, die von den Inseln oder von Holland kamen. Die großen Drei- und Viermaster hingegen liefen Bremen nicht gerne an. Der Hafen war mehr und mehr versandet, und die neuen Anlagen, die weiter draußen an der Mündung des Flusses entstehen sollten, existierten bisher nur auf dem Papier. Doch die Estrella aus Venezuela wurde in Bremen erwartet.
Jan hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die Hosenbeine hochgekrempelt. Mit weit ausholenden Schritten marschierte er am Wassersaum entlang und ließ seine Füße von den kalten Wellen umspielen. Es machte ihm nichts aus, dass sie dabei fast blau froren. Er genoss den Wind, die salzige Gischt, den fischigen Geruch des angespülten Tangs. Kleine Wattvögel rannten in Scharen vor ihm her und pickten im Gleichklang nach der Nahrung, die sie im feuchten Sand fanden, hoch oben trieb der Wind die Wolken zu Paaren, und unter ihnen tollten die Möwen in der schieren Lust am Fliegen durch die Luft.
Es war einsam hier draußen, aber auch das störte ihn nicht. Er wollte es so. Er wollte nachdenken und nach einer Entscheidung suchen. Denn seit er in diesem April das erste Mal nach vielen Jahren wieder das Meer gesehen hatte, war die lange unterdrückte, halb vergessene Sehnsucht aufgebrochen und füllte nun seine Brust fast bis zum Zerreißen. Schmerz war darin, Trauer und eine unbestimmte Form der Liebe, so tief und unergründlich wie der Ozean selbst. Erinnerungen an die Irische See, die Brecher, die an die bizarren Felsen schlugen, die Männer, die mit fester Hand und Gottvertrauen ihre Schiffe um die aufragenden Hindernisse steuerten, lachend, dumme Witze reißend im Angesicht des schnell zuschlagenden Todes. Erinnerungen an die blauen Lagunen, so glatt und still wie ein Spiegel, an deren Grund die Edelsteinlichter farbenprächtiger Fischschwärme aufzuckten. Erinnerungen an die kochende See im Hurrikan, den warmen, peitschenden Regen, umherfliegende Taue und Segeltuchfetzen. Und Erinnerungen an stille weiße Strände, an denen der laue Wind in den schattenspendenden Fächern windschiefer Palmen raschelte.
Jan Martin war in das Meer verliebt, und endlich gestand er sich diese Liebe ein.
Weshalb er sich mit der Frage quälte, ob er je wieder Verzicht üben konnte oder ob es eine Möglichkeit gab, eine Erfüllung seiner Neigung zu finden.
Seit einer Woche quälte er sich damit herum.
Lothar de Haye war der Grund, weshalb er nach Bremen gereist war. Er hatte ihm zu Weihnachten mitgeteilt, er habe die Valmonts von Trinidad eingeladen, nach Deutschland zu kommen. Zum einen, damit sie Gilberts Grab besuchen konnten, zum anderen aber auch, um neue Geschäftsbeziehungen anzubahnen. Wie immer hatte alles, was Lothar tat, einen Hintersinn. Da er sich an dem Vorhaben, die Schokoladenfabrik aufzubauen, lebhaft engagierte, wollte er sich eines verlässlichen Kakaolieferanten versichern und hatte dabei unter anderem die Valmonts mit ihrer Plantage im Auge. Und den Kolonialwaren-Importeur Jantzen. Ob es ihm gelingen würde, die beiden zusammenzubringen, würden die nächsten Wochen zeigen. Jan Martins Vater, noch immer als Patriarch bestimmend im Geschäft, war nach wie vor skeptisch, was den Import von Kakaobohnen anbelangte, sein Compagnon, Jans Cousin Joachim, zeigte sich da aufgeschlossener.
Jan Martin blieb an einem Bootsgerippe stehen, das die hungrige See bis auf die Knochen abgenagt und dann mit Seegras und Miesmuscheln geschmückt hatte. Mit dem Fernrohr suchte er den Horizont ab. Draußen bildeten sich im wilden Spiel von Licht und Schatten weiße Katzenköpfe auf den Wellen, die jedoch nicht hoch genug waren, um einem Schiff ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Diesmal endlich fing sein Blick die Mastspitzen ein, die sich langsam vor dem Blau des Himmels abzeichneten.
Würden sie vorbeiziehen wie die vielen Schiffe der vergangenen Tage, die Kurs auf Hamburg hielten? Oder war es die Estrella , die sich ihrem Ziel näherte?
Er setzte das Glas ab und wanderte ein Stück weiter. Die Flut kam herein, fraß sich in den Sand, ließ die Priele anschwellen. Hier am Meer fiel es Jan leicht, sich dem gemächlichen, ewig gleichbleibenden Rhythmus der Natur anzupassen, der so anders war als seine Verpflichtungen im Institut und das Leben in der Stadt. Er verlangte Geduld und das Sich-Fügen ins Unabänderliche, denn dem Menschen war es nicht
Weitere Kostenlose Bücher