Göttertrank
Kinder, als wir zum Bahnhof wanderten und dort in einen der Wagons einstiegen, um uns am Rausch der Geschwindigkeit zu ergötzen. Julia erklärte zur maßlosen Verblüffung der Mitreisenden exakt die Funktionsweise der Dampflokomotive, und ich ergötzte mich an den unterschiedlichen Reaktionen, die von der ekstatischen Begeisterung eines zwölfjährigen Jungen bis hin zu schockierter Ablehnung einer würdigen Dame reichten.
Josef Nettekoven holte uns am Bahnhof von Raderberg ab und brachte uns nach Bayenthal, wo wir die Feiertage in Alexanders Häuschen verbringen wollten. Paula, die inzwischen akzeptiert hatte, dass Julia in meiner Obhut lebte, hatte ihrer Tochter aber den Auftrag erteilt, ihr ihre Skizzenmappen nach Elberfeld nachzuschicken.
Der Besuch war in vielerlei Hinsicht ein Erfolg. Zum einen hatte Julia ihre ehemalige Gouvernante gebeten, sie zu besuchen, und Fräulein Berit, die ich ebenfalls als sympathische Person aus ihren Erzählungen kannte, erwies sich in natura als genau so, wie geschildert. Sie besetzte inzwischen einen einflussreichen Posten an einer exklusiven Mädchenschule und entzückte uns mit allerlei Anekdoten aus dem Lernalltag der jungen Damen und einer höchst originellen Sicht der politischen und gesellschaftlichen Lage in Köln. Julia hingegen berichtete von ihren Fortschritten in der Malerei, die wirklich beachtlich waren. Seit zwei Jahren wurde sie von einem Künstler unterrichtet, der ihr ein ausgeprägtes Talent bescheinigte, und uns unterhielt sie oft mit schnell hingeworfenen Skizzen, manchmal so frech, dass ich sie eigentlich hätte ermahnen müssen. Ich tat es aber nicht.
Ich überließ Julia und Berit später ihren Klatschereien und widmete mich Juppes und Gisa, denn deren Nachforschungen hatten Früchte getragen. Gleich nach der misslungenen Inbetriebnahme der Dampfmaschine hatte ich Juppes gebeten, sich die Mechaniker vorzuknöpfen, die an jenem Tag die Maschine bedient hatten. Beide waren Angestellte der Firma, einer jedoch erst seit drei Monaten. Er hatte in der Woche darauf gekündigt, aber Gisa hatte eine Abschrift seiner Papiere angefertigt. Nettekovens Anfragen bei den Unternehmen, die er als Referenzen angegeben hatte, warfen ein seltsames Licht auf seinen Werdegang. Zwei Fabrikanten behaupteten, ihn nie beschäftigt zu haben, ein anderer kannte ihn, verwies aber auf Paul Reinecke, zu dem der Mann gewechselt war. Offensichtlich war die Trennung nicht im Frieden erfolgt.
»Ich könnte wetten«, grollte Juppes über seinem Kölsch, »dass der Kerl etwas mit dem verdammten Ventil zu schaffen hatte, das angeblich versagt hat. Ich weiß nur nicht, was.«
»Aber in wessen Auftrag, können wir wohl ahnen. Wenn es zu einem Verfahren kommen sollte, werden wir den Halunken zur Rechenschaft ziehen.«
»Würd ich gern mit eigenen Händen machen, Frau Amara.«
»Das überlasse ich dir, Jupp. Ich werde Paula die Haare mit meinen Krallen frisieren. Weißt du, was das hier ist?«
Ich winkte Julia, die Skizzenmappe aufzuschlagen. Es gab unzählige verschnörkelte Zeichnungen, in denen sich Blüten- und Efeuranken, allerlei Blätter, Rispen und Dolden um irgendwelche seltsamen Gegenstände wanden. Bemerkenswert war mir erschienen, dass die floralen Dekorationselemente in Bleistift ausgeführt, die Gegenstände darunter aber in feinsten Tuschlinien gezeichnet waren. Julias Verdienst war es, zu erkennen, was sie bedeuteten.
Juppes erkannte es auch.
Seine Bemerkung dazu versengte mir die Ohren, und Julia bat ihn, das noch mal zu wiederholen, damit sie es sich aufschreiben könne.
Das korrekte Wort nannte ich ihr für das, was Paula mit ihren Zeichnungen getan hatte: Werksspionage. Denn wenn man die Bleistiftzeichnungen wegradierte, blieben technische Zeichnungen von Schiebern und Getrieben, von Kupplungen und Ventilen übrig. Juppes’ Prüfung bestätigte, dass Paula Alexanders Arbeitsskizzen kopiert hatte.
Mit aussagekräftigen, belastenden Dokumenten in der Tasche beendeten wir drei Tage später unseren Aufenthalt. Alexanders Rehabilitierung war in greifbare Nähe gerückt.
Noch näher an die Verschwörung kamen wir durch den Besuch von Laura von Viersen. Der überraschte mich allerdings wirklich.
An einem Nachmittag im Juni sandte die Dame mir ihr Kärtchen, und ich beeilte mich, meine klebrigen Hände so schnell wie möglich zu waschen, als Julia sie schon in die Küche führte.
»Julia, wie oft habe ich schon gesagt, du sollst den Besuch in den Salon
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