Göttertrank

Kreisen auch politische Themen diskutiert, und das auf eine Weise, die nicht im Sinne der herrschenden Bürokraten lag. Der Kurator war dankbar für jeden, der ihm Namen und Versammlungsorte jener »Demagogen« nannte, um sie dann auffliegen zu lassen, die Wohnungen zu durchsuchen, Verhaftungen vorzunehmen und die Betreffenden von der Universität zu verweisen. Einige von ihnen mussten sogar mit dauernder Polizeiüberwachung rechnen oder wurden gar zu Festungshaft verurteilt.
    Karl August hatte ein gutes Gespür für Kommilitonen, die sich verbotenen Burschenschaften anschlossen oder in ähnlichen Gruppen zusammenfanden.
    Auf diese Weise sollte er auch Alexander Masters begegnen.

Kein Zuckerschlecken
    Unser Leben gleicht der Reise
Eines Wandrers in der Nacht;
Jeder hat auf seinem Gleise
Vieles, das ihm Kummer macht.
    Beresina-Lied, Gieseke
     
     
    »Wir dürfen uns das nicht länger bieten lassen!«, schimpfte der Student mit dem buschigen Backenbart und hieb mit seinem Bierkrug auf den Holztisch. Schaum spritzte über den Rand.
    »Was willst du machen? Anzeigen kannst du einen Spitzel nicht«, meinte ein besonnenerer Kommilitone aus der Runde.
    »Dieser selbstgerechte Spießer. Hätten uns doch denken können, dass der hinter Baring herschnüffelt.«
    »Der Tropf musste aber auch das Flugblatt im Lehrbuch liegen lassen.«
    »Trotzdem. Kantholz hatte nichts an seinen Unterlagen zu suchen. Er muss seine Tasche durchgewühlt haben.«
    Alexander winkte der Wirtin zu, noch eine Lage Bier zu bringen. Er saß mit seinen neuen Freunden in einem Ausflugslokal am Havelufer und lauschte den empörten Kommentaren. Seit einem Jahr arbeitete er bei Egells in der Maschinenfabrik an der Chausseestraße. An den Wochenenden zog er es aber vor, die Stadt zu verlassen und die idyllischen Seen im Südwesten zu erkunden. Hier war er schnell in eine Gruppe Studenten aufgenommen worden, junge Männer wie er, die gerne seinen Berichten aus England zuhörten. Sie diskutierten leidenschaftlich über Pressefreiheit und nationales Bewusstsein, sportliche Ereignisse und die Reize der vollbusigen Wirtin Nadina. Und über die Probleme, die durch die staatlichen Eingriffe ins Universitätswesen entstanden. Gerade war einer aus dem Kreis denunziert worden und saß, angeklagt als Demagoge, in Untersuchungshaft.
    »Man könnte ihm eine herzhafte Abreibung verpassen«, schlug einer der Anwesenden vor.
    »Oder ein kaltes Bad in der Havel. Mit ein paar Backsteinen an den Füßen.«
    Man hatte kreative Vergeltungsvorschläge, doch letztlich war es Alexanders Idee, die jubelnd aufgegriffen wurde.
     
    Schon zwei Tage später kam sie zur Ausführung. Ein Trüppchen mit Seilen bewaffneter Studenten und Alexander selbst lauerten in der Dämmerung dem angehenden Juristen Karl August Kantholz auf, als er aus einem unauffälligen Haus trat, hinter dessen biederer Fassade eine geschäftstüchtige Dame Dienstleistungen gesellschaftlich nicht kommentierbarer Art anbot. Sie folgten ihm vorsichtig, und als er in eine unbelebte Gasse trat, packten sie den verhassten Spitzel, knebelten und fesselten ihn, verbanden ihm die Augen, warfen ihn in eine Schubkarre und bedeckten ihn mit einem Teppich. Auf diese Weise transportierten sie ihn zu der breiten Straße Unter den Linden, wo sie von zehn weiteren Verschwörern erwartet wurden. Schnell bildeten sie einen Ring um ihren zappelnden Gefangenen. Zwei von ihnen ergriffen Karl August, stellten ihn auf die Füße und banden ihn an einen der Bäume. Dann zogen sie ihm die Hosen aus. Diese hängte Alexander unter leisem Gelächter an einem Ast über ihm auf. Er war es auch, der die Augenbinde löste, dem augenrollenden, knurrenden Karl August den Knebel aus dem Mund nahm und ihn aufforderte, so laut wie möglich um Hilfe zu schreien. Dann zerstreuten sich die Rächer in alle Winde.
    Tief gedemütigt stand Karl August mit nacktem Hintern, seine Blöße mit nicht mehr als einem Hemdzipfel bedeckt, mitten auf der Prachtstraße Berlins und traute sich selbstverständlich nicht, sich bemerkbar zu machen. Keinen seiner Widersacher hatte er erkannt, auch wenn er eine genaue Ahnung hatte, um wen es sich handelte. Nur Alexanders Gesicht hatte er gesehen und gehört, wie sie ihn einmal Masters genannt hatten.
    Beides, Aussehen und Name, brannte sich tief in seine Seele ein, und er schwor glühende Rache.
     
    Für Alexander trat dieser Streich bald in den Hintergrund. Die Arbeit bei Egells forderte sein ganzes Können, und erfreut