Goettin - Das Erwachen
das befremdlich und ungerecht fand, musste er das klarstellen, bevor sie sich in diese Welt stürzte.
„Du solltest dich hinlegen. Du siehst ziemlich fertig aus.", stellte Lee leise fest, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte. Er nickte, plötzlich überkam ihn eine bleierne Müdigkeit. Träge rappelte er sich auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Lee zögerte und schüttelte schließlich den Kopf. Oh, ja richtig. Sie würde nun nicht mehr bei ihm schlafen. Sie hatten sich getrennt. „Ich denke, ich gehe jetzt besser nach Hause." Er wusste, dass er da irgendwas dagegen hatte, brauchte aber einen Moment um sich daran zu erinnern, was das war. „Bis du gehst, müssen wir einen völlig normalen Eindruck machen und ich würde es nie zulassen, dass meine Frau alleine schläft. Nicht nach dieser Nacht." Lee nickte, stand aber nicht auf. „Okay, ich werde hier auf der Couch schlafen.", lenkte sie ein. Er wollte gerade sagen, dass das nicht infrage kam, als sie ihn entschieden unterbrach. „Du hast letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Ich schon. Also geh nach oben und schlaf dich aus." Dankbarkeit überkam ihn und er schlurfte wortlos zur Treppe.
Als er sein Bett sah, wollte er sich nur für einen kurzen Moment ausruhen, bevor er in Bad ging. Er setzte sich und etwas in seiner Hosentasche drückte unangenehm auf seinen Oberschenkel. Er zog seinen Schlüsselanhänger raus und betrachtete ihn eine Weile. Es war ein Foto, das er in München von Lee gemacht hatte, in einer Plexiglashülle. Sie hatte noch geschlafen, als er es geschossen hatte. Friedlich hatte sie auf dem Bauch gelegen. Die blonden Locken wirr über ihrem schmalen Rücken und das Laken, das bis zur Hüfte hinunter gerutscht war, hatten unglaublich sexy auf ihn gewirkt. Am Computer hatte er dann nur ihren nackten Rücken herauskopiert, es schwarz-weiß gemacht und zu einem Anhänger machen lassen. Niemand konnte erkennen, welcher Frau dieser wunderschöne, weibliche Rücken gehörte. Aber ihn würde es immer an sie erinnern. Ihr Lachen, ihr Duft und das weiche Haar würden ihm immer einfallen, wenn er es sah. So würde sie nie ganz verschwinden. Nicht für ihn. Noch mit dem Anhänger in der Hand ließ er seinen Oberkörper nach hinten aufs Bett fallen. Nach wenigen Augenblicken schlief er ein.
Kapitel 27
„Fahr vorsichtig.", sagte Rainer Magnus leise und küsste sie auf die Wange. „Klar.", antwortete ihm Lee, so wie sie es schon Hunderte Male beantwortete hatte. Dass es heute anders ausgehen würde, darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken. Ihre Familie durfte nichts davon erfahren, also würde sie so tun, als wäre heute ein völlig normaler Tag. Sie tat verdammt nochmal das, was nötig war, um alle, die ihr nahe standen, zu schützen. Das war sie nicht nur Chris schuldig. Sie drückte Timmi einen Schmatzer auf Eine seiner Pausbacken und umarmte Isa flüchtig. „Ich fahr doch nur nach Stuttgart.", murmelte sie. Damit brachte sie Isa dazu, mit dem Augen zu rollen. Seit dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater fast schon überängstlich, wenn es um seine Töchter ging. Lee konnte den Gedanken, wie ihm ihr Unfalltod zusetzen, ihn verändern würde, nicht unterdrücken, als sie zur Tür lief. Sie wurde heute an ihrer Uni in Stuttgart erwartet und sie musste so tun, als würde sie nun genau dort hingehen. Ihr übliches „Ciao, ciao!", das sie an der Tür über die Schulter rief, klang wie sonst auch. Hell und gut gelaunt. Nichts deutete darauf hin, welcher Kampf in ihrem Inneren herrschte. Sie konnte es kaum ertragen zum Auto zu gehen und wegzufahren. Ihr Familie würde in wenigen Stunden über ihren Unfall informiert werden. Damit schickte sie die Menschen, die sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, durch die Hölle. Sie hoffte irgendwann mit der Schuld, die sie sich damit auflud, klarzukommen.
Als sie wieder ausstieg, schlug ihr kalte, klare Herbstluft entgegen. Die Blätter der wenigen Laubbäume in dem Waldstück, an dessen Rand sie nun stand, hatten sich in bunte Farbtupfern im Meer der immergrünen Nadelbäume verwandelt. Selbst an einem Tag wie heute, wenn der Himmel mit tiefen, dunklen Wolke bedeckt war, wirkte die Schönheit. Der stürmische Wind zerzauste ihr Haar, als sie sich umsah. Neben ihrem Golf stand eine Mercedes-M-Klasse. Aus dem Auto stieg Jamie und kam auf sie zu. Er lächelte ihr aufmunternd zu, während er ihr flüchtig über den Arm strich. „Hi.", sagte sie leise. Bevor er antworten konnte, blieb sein Blick an
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