Goettin - Das Erwachen
hatte sich in seinem Leben schon ein paarmal tief in die Scheiße geritten, doch heute würde er für etwas sterben, dass er weder beeinflusst noch verursacht hatte. Für ihn stand außer Frage, dass er die heutige Nacht nicht überleben würde. Zu schlecht war die letzte Woche gelaufen. Nichts von den Geschehnissen hatte er zu verantworten, aber sein Meister würde ihn nur verhöhnen, wenn er mit diesem Argument ankam. Bevor er die Kopie einer Zeitungsseite auf den Schreibtisch gelegt hatte, hatte er sich überlegt, ob er davonlaufen oder sich irgendwo verstecken sollte. Aber wie lief man erfolgreich vor einer Kreatur davon, die so viel schneller war? Wie konnte man sich verstecken, wenn man überall aufgespürt werden würde? Also hatte er pflichtschuldig sein Todesurteil, nichts Anderes war dieses Blatt Papier, in das Büro gelegt und sich in den einzigen Raum, den sein Meister niemals betrat zurückgezogen. Sein Meister aß normales Essen. Er hatte ihm jeden Tag Welches serviert und oft dabei zugesehen, wie er es vertilgte. Aber es war schlicht unter seiner Würde eine Küche zu betreten.
Bis vor einer Woche war er sich sicher gewesen das Ziel seiner Wünsche bald erreicht zu haben. Er war sich sicher gewesen, bald als Vampir auf dieser Erde zu wandeln oder besser noch zu jagen. Dann waren drei Männer hier aufgetaucht und hatten sich mit seinem Meister unterhalten. Die Tatsache, dass sie die Haustüre eingetreten hatten, als wären sie aus Pappe, hatte ihm klar gemacht, dass es sich dabei um keinen Höflichkeitsbesuch handelte. Als Diener stand ihm selbstverständlich nicht zu bei solchen Unterredungen anwesend zu sein, aber die lauten Gesprächsfetzen, die durch die geschlossene Türe des Arbeitszimmers, verständlich waren, enthielten eine unmissverständliche Botschaft. Wenn weiterhin so viele junge Mädchen hier im Umkreis verschwanden, würde der Meister ebenfalls verschwinden. Die Männer gingen so schnell, wie sie gekommen waren, und ließen ihn mit einem zusammengeschlagenen und mehr als übellaunigen Meister zurück.
Er hatte die ganze Woche versucht ihm so gut es ging aus dem Weg zu gehen, aber nicht einmal die zwei Schönheiten von Mittwoch hatten die Laune gebessert. Der Meister ignorierte die Ansage, der bedrohlich aussehenden und bewaffneten Männer schlicht, aber James würde einen Teufel tun und sich in diese Angelegenheit einmischen. Seit gestern hatte er auch genügend eigene Probleme. Gestern hatte er die Anzeige und den Bericht im Netz gefunden. Im ersten Moment entschied er diese Informationen ihm vorzuenthalten, aber nach einem langen, schlaflosen Tag war ihm klar geworden, dass er es nicht konnte. Zu oft fragte der Meister nach dem Stand der Dinge. Würde er ihm keinen aktuellen Stand liefern können, wäre es auch unweigerlich sein Ende. James war noch nie geduldig gewesen und so wollte er auch das nun einfach hinter sich bringen. Die leise Hoffnung er würde Gnade walten lassen, sorgte dafür, dass er still und unbewegt hier saß und das Kommende wie ein Mann ertrug.
Die neue Haustüre fiel ins Schloss. Das Geräusch löste Panik in ihm aus. Vielleicht sollte er doch versuchen zu fliehen. Oder vielleicht würde der Meister die Auszüge der ausländischen Zeitung auch schlicht nicht verstehen. Diese Hoffnung erstarb sofort wieder. Eine Todesanzeige mit dem Namen Annelie Magnus, ihrem Geburtsdatum und ihrem Sterbedatum waren in jeder Sprache verständlich. Warum musste diese beschissene Hure auch bei einem Autounfall sterben und nicht wie vorgesehen durch die Peitsche des Meisters?
Das Brüllen aus dem Arbeitszimmer ließ das ganze Haus erzittern. James fuhr aus seiner sitzenden Position hoch und stand stocksteif da, die Türe fest im Blick.
Er sah sie nicht kommen, spürte keinen Lufthauch und schon gar keinen Schmerz, als die scharfe, stählerne Klinge seinen Kopf vom Hals abtrennte. Vielleicht hätte er Dankbarkeit empfunden, wenn er sie gesehen hätte. Sein Meister war gnädig und ließ ihn nicht leiden. An all das konnte er jedoch nicht mehr denken. Sein Leben war einfach so vorbei.
Epilog
Lee trat von ihrem neuen Reich hinaus auf die Terrasse und sog die frische, kalte Luft ein. Für einen Moment konnte sie sich nicht entscheiden, welche Anblick berauschender war. Ihr Zimmer, in dem eine Familie Platz gefunden hätte, mit all den Details oder die Lichter der funkelnden Bayernmetropole unter ihr. Die Skyline, entschied sie. Wobei ihr Zimmer wirklich nicht zu verachten
Weitere Kostenlose Bücher