Goettin - Das Erwachen
diesem Bild war komisch, aber sie kam nicht darauf, was dieses Gefühl auslöste. Es zeigte zwei Jungen. Sie trugen für das Mittelalter typische Roben mit weißen Spitzenkragen. Auch die Trümmer der Kommode hatte jemand weggeräumt. Die Sitzgruppe war ein einziger Stilbruch. Die Biedermeier Couch stand vor einem pompösen, vergoldeten Tisch. Auf der anderen Seite des Tischs stand ein Sessel, der fast wie ein Thron wirkte. Er schien die kleine Auseinandersetzung gut überstanden zu haben. Auf einer Kopfseite des Couchtisches stand ein moderner bequem aussehender Fernsehsessel mit Massagefunktion. Über dem Arrangement hing eine breite, moderne Lampe, die mit weißem Segeltuch umspannt war. Josh hielt also nicht viel von Stilvorgaben, wenn sie sich seinen Einrichtungsstil ansah. Wenn sie ihn nach seinem Mobiliar beurteilen sollte, war er unkonventionell, legte Wert auf Gemütlichkeit und es schien ihm egal zu sein, was andere von ihm hielten. Ein Mann nach ihrem Geschmack. Sie stutzte. Das war doch ein Hotel! Nie und nimmer würde ein so eingerichtetes Zimmer an Gäste vermietet werden, sollte der nicht darauf bestehen.
Im großen, kreisrunden Eingangsbereich ging sie den beiden ihr bekannten Männerstimmen nach. Sie ging auf die große, angelehnte Flügeltüre am anderen Ende des Raumes zu. Sie blieb unsicher, ob sie klopfen sollte, stehen. Sofort ertönte die tiefe Stimme: „Komm rein, Annelie." Wobei ihr Name bei dem Briten eher nach dem englischen Namen Ann Lee, als dem deutschen Annelie klang. Sie stieß die Tür auf und trat lächelnd ein. „Hi. Gut geschlafen?", begrüßte sie Liam. Sie nickte und sah sich in dem Raum um. Es war ein Büro. Allerdings nicht nur Irgendeines. Dieses Büro würde abgebrühte Manager sabbern lassen. Vor der bodentiefen Fensterfront stand ein prunkvoller, massiver Edelholzschreibtisch. Die eingearbeiteten Ornamente ließen sie auf eine Antiquität tippen. Die wild drauf verstreuten Papiere und die zwei Computerbildschirme kratzen etwas an der majestätischen Optik. Der dunkle Holzboden hatte exakt die Farbe des Schreibtisches, der den Mittelpunkt darstellte. Da die Wände in einem dunklen Rot getüncht waren, wirkten die weißen Loungemöbel zu ihrer Linken fast schon grell. Trotzdem unterstrichen das makellose Leder und das klare Design, den seriösen Charakter der Raums. „Hi. Tief und fest.", gab sie zur Antwort und steuerte auf Liam und Josh zu. Während Josh aufrecht in einem Sessel saß, lungerte Liam auf der Couch. Irgendwie wirkte er in diesem Raum völlig deplatziert, schien sich daran aber nicht im Geringsten zu stören. Aber nicht nur die Haltung hätte bei den beiden Freunden nicht unterschiedlicher sein können. Liam trug wie immer eine helle Bluejeans und ein einfaches, schwarzes Shirt. Sie hatte Josh nur in Shorts schon für einen britischen Adligen gehalten. Diese Vermutung bestätigten sein maßgefertigter, hellgrauer Anzug und vor allem sein dunkler Krawattenschal. Wer zu Hölle trug heute noch so ein Ding? Da er seine Kleidung wie selbstverständlich trug, wirkte es bei ihm nicht mal lächerlich. Vielmehr unterstrich er damit sein makelloses Gesicht und seinen Körper. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er wie ein gelangweilter Adliger oder ein blutjunger Dressman wirkte. Lee setzte sich zwischen die Beiden auf eine Ecke der Couch, die Liams Füße nicht in Beschlag genommen hatten.
Josh zwinkerte ihr zu und zog seine Nase kraus. „Ohne das ganze Parfum muss ich Liam recht geben. Du riechst unfassbar gut." Sie konnte kaum glauben, was sie da zu hören bekam. Früher hatte sie noch Komplimente für ihr Aussehen bekommen, aber seit sie dreißig geworden war, schien es damit vorbei zu sein. „Was habt ihr nur mit meinem Geruch?", grummelte sie und schnüffelte mal wieder an ihrem Handrücken. Sie roch immer noch nichts. Die beiden Männer schmunzelten. „Wir haben gute Geruchssinne.", erklärte Liam leise. „Wenn wir Glück haben riechen die Menschen nach Waschmittel, Deo und ihrem eigenen Geruch. Das ist dann angenehm bis lecker. Wenn wir Pech haben riechen sie nach zu viel Parfum oder Schweiß. Dann kann eine gute Nase echt ätzend sein." Lee nickte verständnisvoll. Wer schon mal zur Rushhour in der Bahn war, konnte das gut nachfühlen. „Und was ist an mir so besonders?" Dieses Mal antwortete ihr Josh. „Dein Eigengeruch überdeckt alle anderen Gerüche. Du riechst nicht nach Waschmittel oder dem Deo, das du vor nicht mal einer halben
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