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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einfach dazu. Sie wußte, wohin sie zu gehen hatte.
    In der ersten Nacht, die sie im Sandfeld der Omaheke verbrachte, eingerollt in übelriechende Wolldecken und im Schutz eines winzigen Zeltes, dessen Inneres in den vergangenen Wochen mehr als einen Skorpion gesehen hatte, entrollte sie zum sicherlich hundertsten Mal die Karte, die Professor Pinter ihr gegeben hatte. Die Ränder waren abgegriffen und zerfleddert, doch das, worauf es ankam, das Herzstück der Karte, war immer noch wie neu. Es zeigte den nördlichen Teil der Kalahari, der im Osten weit hinein nach Betschuanaland reichte. Ein enger Kreis markierte die Stelle, an der Selkirk auf die Ruinen Henochs gestoßen war, und Cendrine hatte einen zweiten Kreis um eine winzige Ortschaft – wahrscheinlich nur eine abgelegene Handelsstation – namens Osire gezogen. Henoch lag etwa dreihundert Kilometer östlich davon, im absoluten Nichts. Wer immer die Karte gezeichnet und mit Aquarellfarben koloriert hatte – diese Stelle hatte er ausgelassen, so als sei es ihm völlig absurd erschienen, daß irgendwer sich jemals für diese Region interessieren könnte. Der Kreis, den Selkirk mitten auf dieses leere Stück Pergament gezeichnet hatte, wirkte wie ein Fremdkörper, vielleicht der Rand eines getrockneten Kaffeetropfens, der vor wer weiß wie vielen Jahren darauf gespritzt war.
    Dreihundert Kilometer durch die Todeszone der Omaheke. Allein die Vorstellung dieser Strecke wäre Cendrine noch vor wenigen Wochen wie ein Fiebertraum erschienen, ein Schreckensbild aus einer ihrer Visionen, bei der es längst keine Rolle mehr spielte, ob ein Wirbelsturm am Horizont tobte oder nicht. Dreihundert Kilometer, glühende Hitze am Tage und frostige Kälte bei Nacht, keine Nahrung, außer der, die man bei sich trug, und mit ziemlicher Sicherheit auch kein frisches Wasser. Dreihundert Kilometer – auf einem Pferd oder Kamel bedeutete das eine Reise von fünf bis sechs Tagen, ohne die Unbill der Natur mit einzubeziehen. Fast eine Woche im Nirgendwo. Selbst nach der anstrengenden Reise, die sie von der Skelettküste hierhergeführt hatte, fehlte Cendrine noch die Vorstellungskraft, sich ein solches Unterfangen auszumalen.
    Dann aber ertönten in ihren Träumen wieder die Rufe der Frau, und der Gedanke, auch diese letzte Mühsal auf sich zu nehmen, erschien ihr eine Weile lang wieder sinnvoll und nötig.
    Am Abend des zweiten Tages nach ihrem Abstieg aus den Bergen – zwei Tagen im Sand und dürren Gras der Omaheke – erreichte die Karawane endlich Osire. Cendrine behielt recht: Die Ortschaft bestand lediglich aus einer Handelsstation, ähnlich der von Elias und Nanna, und drei weiteren Häusern. Auf einer Veranda wippte ein alter Mann in einem Schaukelstuhl und blickte den Neuankömmlingen entgegen. Ansonsten war kein Mensch zu sehen. Vor Cendrines Kamel huschte ein unterarmlanges Reptil durch den Sand, aber es verschwand zu schnell, als daß sie hätte erkennen können, um was es sich handelte.
    Die Karawane bestand aus sechs Händlern mit ihren Waren und einem Trupp von acht Soldaten. Als der Besitzer der Handelsstation ins Freie trat, dauerte es nur wenige Minuten, bevor sich heftiges Feilschen und Handeln entspann. Die Soldaten beobachteten das Treiben ihrer Schützlinge mit sichtlicher Heiterkeit, während sie ihre Pferde an einer Blechwanne tränkten und sich mit den Ärmeln den Schweiß von der Stirn wischten.
    Cendrine war im Sattel sitzengeblieben und schaute angestrengt zum flimmernden Horizont. In spätestens einer Stunde würde die Dämmerung hereinbrechen.
    »Wie komme ich zum Fort?« fragte sie ungeduldig einen der Soldaten.
    Der Mann blickte seufzend zu ihr auf. »Sie sind nicht kleinzukriegen, was?«
    »Bringen Sie mich hin, oder muß ich alleine weiterreiten?«
    Ein anderer Uniformierter mischte sich ein. »Wir reiten gemeinsam. Aber auch Sie sollten Ihrem Kamel ein paar Schlucke Wasser gönnen, Fräulein, sonst bricht es Ihnen ohne Vorwarnung unterm Hintern zusammen.«
    Einige Soldaten schmunzelten bei der Vorstellung, und Cendrine gab nach. Sie ließ das Kamel in die Knie gehen und stieg aus dem Sattel. Erst jetzt, als sie einige Schritte um die Tränke herum ging, merkte sie, wie steif sie geworden war.
    Zwanzig Minuten später brachen sie auf. Drei Händler blieben in der Station, die drei übrigen ritten mit Cendrine und den Soldaten weiter zum Wüstenfort der Schutztruppe. Der Weg dorthin war weiter, als Cendrine angenommen hatte, und es wurde bereits

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