Göttin der Wüste
niemals wieder frei.
Cendrine hatte während der vergangenen viereinhalb Wochen so vieles über diese Gegend gehört, daß sie der tatsächliche Anblick beinahe enttäuschte. Als die Karawane aus Omburo die Ausläufer der Berge überschritt, die sich vom Waterberg-Plateau im Nordwesten der Omaheke in südlicher Richtung bis Omaruru zogen, um dort in die Hänge des Erongo-Massivs zu münden, breitete sich vor Cendrines Augen zum erstenmal jene Landschaft aus, von der sie so viel hatte reden hören.
Ihre erste Empfindung war ein Eindruck von überwältigender Leere. Die zweite war Überraschung.
Sie hatte eine weiße Dünenlandschaft erwartet, ähnlich der Namib mit ihren sanft gewellten Sandhügeln und Tälern. Statt dessen aber blickte sie von den Felsen viele Meter tief in eine Ebene hinab, flach wie ein Spiegel und mit Gras und kargen Büschen bewachsen. Sie wußte jedoch, daß der Anblick trog, ja daß diese Gegend weit tödlicher sein konnte als die Namib, gerade weil sie auf den ersten Blick so ungefährlich erschien.
Und doch beruhigte es sie nach all den Tagen angstvoller Vorahnung, daß die Bilder einer glühenden Sandhölle, die sie vorausgesehen hatte, nicht der Wirklichkeit entsprachen. Zumindest noch nicht in diesem Teil des Landes.
Die Karawane, die sich jetzt auf den Weg hinab in die Ebene machte, war die sechste, der sie sich seit ihrer Abreise von der Skelettküste angeschlossen hatte. Das Geld, das Elias ihr mitgegeben hatte, war immer dann ihre letzte Rettung gewesen, wenn sie nahe daran war, alle Hoffnung aufzugeben. Von Zesfontein aus war sie nach Otjitambi gereist, von dort aus nach Outjo – wo sie mit dem Gedanken gespielt hatte, ihrem alten Bekannten, dem Hauptmann des Forts, einen Besuch abzustatten, es dann aber doch lieber gelassen hatte – und schließlich nach Omburo, um dort die vorletzte Etappe der Reise zu beginnen.
Viereinhalb Wochen im Sattel, davon die letzten beiden notgedrungen zwischen den Höckern störrischer Kamele, obwohl es doch noch gar nicht lange her war, daß sie sich geschworen hatte, nie wieder eines dieser Tiere zu besteigen. Viereinhalb Wochen der Erschöpfung und Entbehrungen, nahezu ohne Kleidung zum Wechseln und immer wieder in Begleitung von Männern, die ihr mehr als nur freundliche Blicke zuwarfen. Ihr Glück war, daß seit Beginn der Herero-Aufstände fast alle Karawanen von Soldaten der Schutztruppe begleitet wurden, so daß sie zumindest vor Übergriffen ihrer Mitreisenden einigermaßen sicher war.
Während des Abstiegs aus den Bergen hielten die Kamele bemerkenswert gut ihr Gleichgewicht, trotz losen Gerölls und tückischer Felsspalten. Cendrine mochte die Tiere noch immer nicht, aber sie hatte sich in den vergangenen Tagen daran gewöhnt, auf ihnen zu reiten. Ihr Hinterteil war von der langen Reise ohnehin völlig taub geworden, und ihre Rückenschmerzen, die sie am Anfang noch mit gnadenloser Härte heimgesucht hatten, waren ebenfalls seit über einer Woche verschwunden. Allmählich wurde sie unempfindlich gegen alles – gegen Schmerz, gegen Durst, gegen das Getuschel der Männer hinter ihrem Rücken, sogar gegen den Sonnenbrand, der ihr in den beiden ersten Wochen fast das Fleisch von den Knochen geschält hatte.
Ein tiefer Zynismus hatte sich in ihr breitgemacht, gegenüber sich selbst und gegenüber allem, was von außen auf sie eindrang, und sie war zu der Überzeugung gekommen, daß sich die Torturen, die dieses Land für sie bereithielt, nur auf diese Weise ertragen ließen. Gleichgültigkeit und Härte, die ihr früher völlig fremd gewesen waren, bestimmten allmählich jeden ihrer Tage. Sogar ihre Monatsblutung hatte sich als bemerkenswert rücksichtsvoll erwiesen und war mehr oder minder ausgeblieben.
Sing einfach ein Lied, und jeder wird denken, du seist zum Reisen geboren, lästerte ihre innere Stimme. Alles ist ja so wundervoll.
Doch natürlich war überhaupt nichts wundervoll. Und das lag nicht allein an den Strapazen, die sie seit Wochen durchlitt. Vielmehr machten ihr wieder die Träume zu schaffen, und mehr noch als die Träume die Hilferufe der Frau. Denn daß es Hilferufe waren, daran zweifelte sie nicht mehr. Die Frau – wer immer sie war, wo immer sie war – brauchte Beistand. Cendrines Beistand.
Sie hatte aufgehört, Fragen zu stellen. Fragen führten in ihrer Lage zu nichts. Ihr war klar, was sie zu tun hatte – wenigstens sagte sie sich das immer wieder, und Selbstzweifel gehörten bei einem solchen Unternehmen wohl
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