Göttin der Wüste
plötzlich standen beide unbewegt im Dunkeln, dreißig, vierzig Schritte voneinander entfernt.
Cendrine starrte die Silhouette durchdringend an. Sie war nicht sicher, ob das Gedankenlesen, das Qabbo und Adrian an ihr praktiziert hatten, ein Aspekt der Kraft des Schauens war, aber sie wollte es zumindest versuchen.
Offenbar traf sie den anderen damit gänzlich unvorbereitet.
»Qabbo!« entfuhr es ihr.
Es gelang ihm nicht schnell genug, eine Sperre gegen ihr Tasten zu errichten, und als er es schließlich versuchte, da schlug Cendrine sie kraft ihrer Gedanken mühelos in Stücke. Sie hörte seinen Aufschrei, erst in seinem Geist, dann, um Sekundenbruchteile versetzt, auch im Tunnel. Er war nur einen Moment lang unvorsichtig gewesen – vielleicht, weil er glaubte, daß Angst und Staunen sie überwältigt hatten –, aber der Augenblick reichte aus, um in seinen Gedanken zu lesen wie in einem Buch, es von vorne bis hinten durchzublättern und mit irrwitziger Geschwindigkeit Bruchstücke aufzufangen, die ihr von den Seiten entgegensprangen.
Und sie begriff, daß er sie belogen hatte.
Die ganze Zeit über – belogen!
Das helle Gangende wurde auf einen Schlag schwarz von Menschen. Zahllose Gestalten schoben sich aus der Säulenhalle in den Tunnel, viel schneller als Qabbo, schlanke, gedrungene Leiber, die im Laufschritt auf sie zurasten.
Die Wahrheit war wie ein Hieb, der sie hinterrücks aus der Finsternis traf. Cendrine taumelte, ihre Gedanken rasten im Kreis, ließen Bilder erstehen, von eigenen Erinnerungen und von Gehörtem.
Sie sah wieder die weiße Gestalt des Brudermörders in der Wüste, sah, wie er sie mit flatternden Gewändern lockte, wie er ihr zurief, ihm zu folgen, ein gleißender Schemen vor dem Fanal des Tornados am Horizont. Damals war Qabbo erschienen und hatte Cendrine zurückgerissen, hatte sie fortgezogen von Kain und dem, was er ihr zeigen wollte.
Doch Qabbos Eingreifen war keine Rettung gewesen, wie sie bisher geglaubt hatte. Kain hatte sie warnen wollen, doch der San hatte das nicht zugelassen.
Kain war nicht unterwegs zum Haus der Kaskadens, um die Steine zurückzuholen. Nein, die Steine waren längst unwichtig, die Schändung des Tempels ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Tatsächlich ging er dorthin, weil er annahm, Cendrine dort zu finden. Er wollte sie noch immer davor warnen, in die Wüste zu gehen, hierher, in diesen Tempel. Jemand ließ ihn glauben, Cendrine sei immer noch in den Auasbergen. Und dieser Jemand war Qabbo.
Wie mächtig war der kleine San wirklich? Wochenlang hatte er Cendrine gegen Kains Rufe abgeschirmt, das letzte Mal hatte sie die Anwesenheit des Brudermörders in ihren Träumen an der Skelettküste gespürt. Seither nichts mehr. Qabbo war der mächtigste unter den Weisen der San, daraus hatte er nie einen Hehl gemacht. Doch daß er sogar die Kraft besaß, ein Wesen wie Kain zu betrügen, das war unfaßbar.
Warum hatte er all das getan? Die Antwort darauf war so nah, sie konnte sie spüren wie ein Wort, an das man sich nicht erinnert, obwohl es einem auf der Zunge liegt.
Und dann …
… sieh nur, die Antwort, dort vorne …
***
Anderswo. Am Rande der Auasberge.
Ein Mann schreitet durch Sand und Geröll. Seine Schritte sind weit und kraftvoll. Er hat ein Ziel. Seine Füße verursachen Wellen im Boden. Sand, Staub und Erde rutschen in weiten Ringen bergab, und doch ist der Mann nie in Gefahr, hinabgerissen zu werden. Er kennt das Land seit Jahrtausenden.
Der Mann trägt ein weißes Gewand. Es flattert im Sturm, der die Welt um ihn aufpeitscht. Auch sein Kopf ist in weiße Stoffe gehüllt, nur die Augenpartie blickt zwischen den Tüchern hervor. Er schützt sich, weil er es irgendwann einmal gelernt hat. Dabei hat er Schutz längst nicht mehr nötig. Nicht er. Er kennt weder Schmerz noch Verletzung. Kennt keinen Sonnenbrand und keinen Durst. Kennt keinen Tod, nicht den eigenen.
Vor ihm rasen die Boten der Großen Schlange als staubige Derwische über die Hänge. Hinter ihm, dort, wo er herkommt, herrschen Chaos und Vernichtung. Dort wölbt sich der Horizont empor und schreit auf vor Schmerz, als die Welt aus den Fugen bricht, aufgewühlt vom Sturm aller Stürme.
Ein Trichter aus tobendem Sand tanzt in seinem Rücken, gar nicht weit entfernt und doch so hoch wie der Himmel selbst. Die Große Schlange tanzt hungrig und durstig nach Leben und Tod, tanzt ihren Tanz der Verdammnis.
Der Mann geht ihr voran, zieht sie an unsichtbaren Ketten.
Das Land
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