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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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darüber vergaß sie ihre Pflichten. Sie blieb hier, und mit ihr blieb Kain, beide untrennbar aneinander gefesselt, vereint, aber nicht mehr zur Wanderschaft gezwungen, denn die Mauern dieses Ortes schützten sie vor dem Zorn ihres gemeinsamen Herrn.
    »Bis Selkirk kam …«
    Bis er kam und die Mauern zerstörte, ja. Der Engländer hat Schaden angerichtet, der nicht mehr gutzumachen ist. Der Tempel ist zerstört, und es kann keinen neuen geben, denn anders als damals, als es Henoch gab und das Volk, das dort lebte, existieren heute nur noch wenige, die bereit wären, Schweiß und Leben für solch einen Bau zu lassen. Die ewige Wanderung hat wieder begonnen, nach vielen Jahrtausenden der Ruhe. Die Große Schlange zieht wieder umher und folgt Kain auf jedem seiner Schritte.
    »Du hast gesagt, sie seien unterwegs zu den Kaskadens.«
    Sie werden jeden Augenblick dort eintreffen.
    »Was kann ich tun?«
    Qabbo schwieg, und in der Stille, die mit einemmal herrschte, fiel Cendrine noch etwas anderes auf: Die Stimme der Frau war verstummt. Keine Rufe mehr, keine fremde Verzweiflung, die ihren Geist erfüllte. Dies war der letzte Beweis, daß sie endlich am Ziel wahr. Der Tempel der Großen Schlange war wie das Zentrum eines Wirbelsturms, in dem das Tosen der Elemente verebbte, in dem nichts existiert außer Schweigen und die Gewißheit von unabwendbarem Verhängnis.
    Da, eine Bewegung – am äußeren Rand ihres Blickfeldes!
    Cendrine fuhr herum. Zwischen den Säulen war nur Leere. Sie machte einen vorsichtigen Schritt und entdeckte in einigen Metern Entfernung im aufgewühlten Sand eine Fußspur. Kein Irrtum. Jemand war hier.
    Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihr Blick raste durch den Säulenhof, traf überall nur auf Stein, der ihr die Sicht verstellte.
    Dann bemerkte sie es erneut. Gestalten sprangen zwischen den mächtigen Pylonen umher, ganz gleich, wohin sie schaute. Doch immer wenn sie glaubte, jemanden entdeckt zu haben, war keiner mehr da, und ein neuer Schemen zog ihre Blicke in eine andere Richtung.
    »Wer ist da?« fragte sie und stellte fest, daß der Kloß in ihrem Hals auf ihre Stimmbänder drückte.
    Es war sinnlos. Keiner zeigte sich.
    Sie greifen mich nicht an, dachte sie. Und warum sollten sie auch? Wenn sie mich töten wollten, hätten sie es längst tun können, aus einem ihrer Verstecke oder ganz offen am Eingang des Tempels.
    Sie beschloß, einfach weiterzugehen. Ihr war, als atmete bei jedem Schritt jemand in ihren Nacken, aber sie wagte nicht, sich umzudrehen, aus der Befürchtung heraus, es würde erneut niemand mehr dasein. Dabei konnte sie die Anwesenheit der anderen ganz deutlich spüren.
    Endlich erreichte sie das Ende des Säulenhofes und gelangte an einen Torbogen, der sich in Form einer angedeuteten Schlange um eine Tunnelöffnung schmiegte. Sie trat hindurch und ließ die Schemen zwischen den Pylonen zurück; wenn sie ihr jetzt folgten, würde Cendrine ihre Silhouetten gegen das Licht des Eingangs erkennen können. Dann würde sie wissen, ob es Menschen waren, die ihr folgten. Oder Tiere. Oder Götter.
    Zügig ging sie weiter und schaute dabei immer wieder über ihre Schulter. Der Tunnel war sehr dunkel, und das Licht, das an seinem Ende schien, leuchtete gedämpfter als jenes im Hof. Im Näherkommen erkannte sie hektisches Flackern und Zucken. Ein Feuer brannte, vielleicht Fackeln.
    Sie hatte etwa die Mitte des Tunnels erreicht, jene Stelle, wo er am dunkelsten war, als sie wieder einen Blick nach hinten warf.
    Eine einzelne Gestalt folgte ihr. Klein, schmächtig. Aufgrund des Körperbaus vermutete sie, daß es ein Mann war. Er ging langsam, ohne das Bestreben, ihren Vorsprung aufzuholen, ein unscheinbarer Scherenschnitt vor dem helleren Halbrund des Schlangentores.
    Sie überlegte, ob sie warten, ihn herausfordern, einfach fragen sollte, was er von ihr wollte. Aber es war kein Mann gewesen, der sie all die Monate lang gerufen hatte; nicht er war es, um den es hier ging.
    Also lief sie weiter, jetzt ein wenig schneller, um endlich in den Lichtkreis des Feuers zu treten. Die Schritte ihres Verfolgers blieben im Sand völlig lautlos, nur Cendrines aufgeregtes Atmen hallte von den Wänden wider.
    Sie hatte den Ausgang des Tunnels fast erreicht, als ihr ein Einfall kam. Abrupt blieb sie stehen und machte kehrt. Die Gestalt hielt sich jetzt seitlich an der Wand und trat nur noch gelegentlich vor das Licht des fernen Ausgangs. Aber sie war immer noch hinter Cendrine – jetzt vor ihr –, und

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