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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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brüllt auf vor Zorn und Erniedrigung, immer noch regnet Staub vom Himmel.
    Heute sind hier sogar die Tränen aus Sand.
    Der Mann steigt hinab in das Tal der Kaskadens.
    ***
    Adrian betrat die Küche und verfluchte im stillen seine Taubheit. Früher, als er und sein Zwillingsbruder in den weitläufigen Fluren und Zimmern des Anwesens Verstecken gespielt hatten, war Valerian immer im Vorteil gewesen. Valerian konnte alle verdächtigen Geräusche hören, mochte Adrian sich noch so gut vor seinen Blicken verbergen. Adrian hingegen mußte sich stets auf seine Augen verlassen. Und natürlich auf die anderen Kräfte, die er damals gerade entdeckte.
    Mit ihnen versuchte er auch jetzt, die Mädchen ausfindig zu machen. Doch alles, was sein Geist empfing, war Schweigen. Es war eine andere Stille als jene, die seine Ohren erfüllte. In der Küche herrschte die Stille des Todes.
    Er fand die Leiche, als er auf die andere Seite der Anrichte trat. Sie lag blutend auf dem Rücken, den leeren Blick zur Decke gerichtet. Ein Hackmesser hatte den Körper der Köchin aufgerissen, die Klinge steckte oberhalb der Hüfte in ihren Eingeweiden.
    Sie war eine große Frau gewesen, von beachtlichem Gewicht und mit gütigen Augen. Die Mädchen hatten sie gemocht. Sie war die erste Weiße gewesen, die in der Küche der Kaskadens Dienst tat.
    Sie war auch die erste, die hier starb.
    Alles wiederholt sich! durchfuhr es ihn. Alles ist genau wie damals. Der Sturm. Die Toten. Alles wie damals.
    Etwas rollte von hinten an ihm vorbei über den Fliesenboden. Ein silberfarbener Metalltopf prallte gegen den Leichnam der Köchin und kam kreiselnd zum Liegen. Der Aufprall mußte einen Heidenlärm gemacht haben, aber Adrian konnte ihn nicht hören. Und obwohl ihn das Entsetzen über den grausigen Fund zu lähmen drohte, wirbelte er herum und stolperte instinktiv einen Schritt zur Seite.
    In einem blitzenden Halbkreis fuhr eine Messerklinge an seiner Schulter vorüber. Adrian konnte den Luftzug spüren. Er machte zwei Sätze rückwärts, stolperte über die Leiche, fing sich nur mit Mühe und sah ungläubig mit an, wie der Angreifer nachsetzte und auf ihn zu stürzte.
    Johannes hielt ein Tranchiermesser in der Rechten, seine linke Hand war zur Faust geballt. Sein Gesicht war nicht wutverzerrt, er wirkte nicht einmal angespannt. Der Butler ging auch dieser Aufgabe mit Gelassenheit und Pflichtbewußtsein nach wie schon seit eh und je allem anderen. Er würde Adrian mit der gleichen Ruhe töten, mit der er früher einem Gast Hut und Mantel abgenommen hatte.
    Adrian konnte Johannes’ Arm gerade noch beiseite schlagen, als sein Gegner sich auf ihn stürzte. Die Klinge stieß gegen die Kante der Anrichte, prallte ab und schrammte dabei am Oberschenkel des Butlers vorbei. Ob die Schneide ihn verletzt hatte, konnte Adrian nicht sehen, denn er selbst wirbelte herum, um ein paar Schritte Distanz zwischen sich und den Butler zu bringen.
    Johannes aber gab keineswegs auf. Blitzschnell, wie nur die kleinen, flinken San es vermochten, setzte er nach, mit Bewegungen, die im krassen Gegensatz zur Ausdruckslosigkeit seiner Züge standen. Das Messer zuckte vor und erwischte Adrian am linken Unterarm. Ein scharfer Schmerz raste bis hinauf zu seiner Schulter, und sein Hemd färbte sich rot über der Wunde.
    Zum erstenmal erschien eine Regung in Johannes’ Gesicht: In seinen Augen glitzerte Triumph.
    Adrian wich weiter zurück, blickte sich gehetzt nach einer Waffe um, sah aber, daß das Wandbrett mit den Küchenmessern genau auf der anderen Seite der Anrichte hing, hinter Johannes und seiner funkelnden Klinge. Das einzige, was Adrian in die Finger bekam, war ein langstieliger Topf. Damit holte er aus und zielte schwungvoll nach dem Kopf des Butlers, verfehlte ihn um Haaresbreite, bewirkte aber immerhin, daß er zurückwich.
    »Was soll das?« zischte Adrian atemlos.
    Er hatte nicht wirklich eine Antwort erwartet, und so überraschte ihn das Schweigen des Butlers keineswegs. Statt einer Erwiderung machte Johannes eine tiefe Verbeugung, als hätte er gerade eine Erledigung für seinen Herrn verrichtet. Dann stürmte er abermals vor.
    Adrian wollte erneut mit dem Topf ausholen, doch diesmal war Johannes schneller. Der San tauchte unter dem Schlag hinweg. Der Topf verfehlte seinen Schädel, krachte statt dessen gegen seine erhobene Hand mit dem Messer. Adrian hörte, wie mehrere seiner Knöchel barsten. Die Klinge wurde aus Johannes’ Griff geschleudert und verschwand in weitem

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