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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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etwa fünfzig Schritten trat sie aus dem hellen Schein der Fackeln und gelangte in eine Zone aus Dämmerlicht. Der Baum war jetzt nicht mehr so weit entfernt, und trotzdem war er kaum deutlicher zu erkennen als vom Eingang der Halle aus.
    Die Wurzeln führten weit fort vom Stamm, ein undurchdringliches Gewirr. Cendrine hatte erwartet, daß eine so gigantische Pflanze einen starken Geruch nach Holz ausdünsten würde. Jetzt aber roch sie nichts dergleichen. Sie erkannte, was Qabbo gemeint hatte.
    Der Lebensbaum war versteinert.
    Wie alt, wie unsagbar alt mußte all das hier sein! Nichts, was sie je über den Ursprung der Menschheit zu wissen geglaubt hatte, blieb haltbar. Alles war anders. Sie wußte nicht, wie die Wahrheit aussah, aber im Grunde war das auch längst ohne Belang.
    War der Lebensbaum das letzte Relikt des Gartens Eden? Für die San mochte er eine andere Bedeutung haben. Am Ende aber mußten alle Glaubensrichtungen auf dieselben Ursprünge zurückzuführen sein, sonst ergab nichts von dem allen einen Sinn.
    Eine Frau und ein Mann in einem Garten, das war die Wurzel, aus der alles andere erwachsen war. Eine Frau und ein Baum; die Schlange; ein Sohn erschlägt den anderen – damit waren die Rollen verteilt, ganz gleich welche Namen man ihnen gab.
    Immer noch trennten Cendrine etwa zwanzig Meter von den äußeren Wurzeln des Baumes. Ihre Unruhe wuchs. Das Labyrinth der versteinerten Stränge war schwarz und angsteinflößend, und sie wollte nicht näher heran, konnte spüren, daß sie dort erwartet wurde. Jemand lauerte im Dunkeln auf sie.
    Etwas bewegte sich zwischen den Strängen.
    Qabbo packte sie am Arm und riß sie herum. »Der Lebensbaum stirbt, schon seit vielen Generationen. Das, was ihn am Leben erhalten hat, hat seine Macht verloren.«
    Cendrine schaute unsicher über die Schulter, zurück zu den Wurzeln, dann kreuzte sie mit betonter Ruhe Qabbos Blick. »Und du glaubst, ich besäße die Macht, den Baum zu heilen?« Sie beugte sich vor, bis ihre Augen fast auf einer Höhe mit seinen waren. »Wem dienen die Weisen der San wirklich, Qabbo? Deinem Volk oder der Ersten Rasse?«
    »Wer der Ersten Rasse dient, dient auch den San«, erwiderte er steif.
    »Du hast mich weiße Schamanin genannt. Aber gemeint hast du Weiße Göttin, nicht wahr? Ich sollte ihre Nachfolge antreten. Als Hüterin eures Lebensbaums.«
    »Du wärest niemals mit mir hierhergegangen, hätte ich dir die Wahrheit gesagt.«
    »Du hättest mich entführen können, schon damals, in jener Nacht in der Mine.«
    Er schüttelte den Kopf. »Vieles hängt davon ab, daß du freiwillig deinen Platz einnimmst. Niemand hätte dich zwingen können.«
    »Und jetzt, da ich hier bin –«
    »Du hast deinen Platz schon gefunden, im selben Augenblick, da du den Tempel betreten hast.«
    »Ich bin keine San. Ich bin nicht an deine lächerlichen Gesetze gebunden.«
    »In dir ist viel mehr von einer San, als du wahrhaben willst. Seit dem Ritual in der Wüste bist du eine von uns.«
    Sie durchschaute ihn. »Aber nicht nur das. Darum geht es doch, oder? Ich bin auch –«
    »Noch immer eine Weiße, allerdings. In dir leben beide Völker, so wie in mir die San und die Erste Rasse lebt. Aber du hast die Macht, Cendrine! Du wirst die neue Weiße Göttin sein.«
    Sie wandte sich um und blickte zurück zu den Wurzeln. Daß sich darin etwas bewegte, war jetzt noch deutlicher zu erkennen. Eine Gestalt schob sich aufrecht durch das Dickicht, kam langsam auf den äußeren Rand des Wurzelgeflechts zu, ein Schatten, ein blasser Schemen hinter den Strängen.
    Cendrines Stimme klang heiser. »Was wird sie dazu sagen?«
    »Sie weiß es«, sagte Qabbo gedämpft. »Sie hat es schon die ganze Zeit gewußt. Deshalb hat sie dich gerufen.«
    »Und versucht, mich zu warnen?«
    »So ist es.«
    »Genau wie ihr Sohn. Genau wie ihr Liebhaber.«
    Qabbo nickte wieder. »Es war nicht leicht, Kains Tasten nach deinem Geist in eine andere Richtung zu lenken. Ich habe viel Kraft dabei verloren.«
    Die Frauengestalt blieb hinter den äußeren Wurzeln stehen, eine hochgewachsene schlanke Erscheinung, in der Finsternis so diffus wie ein Geist.
    »Sie ist die Weiße Göttin seit Anbeginn der Zeit«, flüsterte Qabbo voller Ehrfurcht. »Aber sie hat an Macht verloren. Auch sie konnte nicht verhindern, was mit dem Lebensbaum geschah. Der Baum braucht eine neue Wächterin, neues Leben, und die Erste Rasse eine neue Weiße Göttin.«
    »Kain wollte das verhindern. Er besitzt die Macht dazu.

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