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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Besorgnis, die sie in Adrians Augen las. Schließlich aber stand sie auf, sah zu, wie die beiden Mädchen sich von Valerian verabschiedeten, knickste selbst vor ihm und wünschte ihm alles Gute. Dann nahm sie Salome und Lucrecia an ihren eiskalten Händen und führte sie mit steinerner Miene aus dem Zimmer.
    ***
    Der Mond stand am Nachthimmel über dem Tal und gab den Weinreben die Farbe von Eiskristallen. Die Schatten der Akazien wogten über die Wiese und umspielten den Fuß des Termitenhügels wie die Brandung eines schwarzen Ozeans. Mitternacht war verstrichen, und es bewegte sich dort unten außer den Schatten noch etwas anderes. Menschen huschten zwischen den Bäumen umher. Buschleute. Mehr als ein Dutzend halbnackter San.
    Cendrine stand hinter ihren Erkerfenstern und starrte hinaus in die Nacht. Sie ahnte, was die Männer und Frauen taten. Adrian hatte es ihr erklärt: Die San brachten dem Termitenbau ihre Opfer dar.
    Zwei Tage waren seit Valerians Abschied vergangen. Er war davongeritten, ohne seinen Vater noch einmal gesehen zu haben. Titus sollte erst am nächsten oder übernächsten Tag heimkehren, und bis dahin würde Valerians Kompanie bereits die ersten Etappen ihres Weges ins Nirgendwo bewältigt haben. Zudem bezweifelte Cendrine, daß Valerian allzu großen Wert auf diese Begegnung legte. Titus hätte doch nur versucht, ihn von seinem Entschluß abzubringen, hätte vielleicht sogar über Valerians Kopf hinweg seine Beziehungen spielen lassen, um ihm die Torturen der Omaheke zu ersparen.
    Die San versammelten sich in einem Kreis um den Termitenhügel. Die Äste, die daraus hervorstachen, bebten und bogen sich im ewigen Wind der Savanne, so als könnten sie es vor Gier kaum mehr erwarten, die Gaben der San zu packen und an sich zu reißen. Die zitternden Schatten der Akazien schufen Bewegungen auf der Oberfläche des Hügels, schufen Augen und Schlünde, schufen Leben.
    Cendrine schauderte bei diesem Anblick. Sie fragte sich, ob die merkwürdige Anziehung, die der Bau auf sie ausübte, auch die San hierher zog. War er es, der sie dazu trieb, ihm Opfer zu bringen? Und würde auch Cendrine eines Nachts an seinem Fuße knien und ihre Gaben vor ihm niederlegen, wie eine Priesterin vor dem Abbild eines uralten heidnischen Götzen?
    Die meisten Buschleute trugen Säcke, die sie jetzt am Boden absetzten. Langsam, mit beinahe kindlicher Sorgfalt rollten sie die Ränder der Öffnungen nach unten, entblößten im Mondschein eine Vielzahl unterschiedlicher Gegenstände.
    Je länger Cendrine hinsah, desto mehr Einzelheiten erkannte sie. Im fahlen Mondlicht sah sie, daß die Gesichter der San ungewöhnlich glänzten, als wären sie mit irgend etwas bemalt. Auch ihre Körper waren mit Zeichnungen überzogen, verwinkelten, dünnen Linien, die an Insektenbeine erinnerten. Einige trugen Kopfbedeckungen aus Zweigen; auch sie waren den Gliedern von Termiten nachempfunden.
    Die Opfergaben waren jetzt deutlicher zu erkennen. Einige San legten Zweige vor dem Bau ab, andere Holzreste, einer sogar einen Haufen Sägespäne. Auch Obst wurde dargebracht, Blätter und Gemüse. Die San traten einer nach dem anderen vor und legten ihre Gaben rund um den Termitenbau ab. Danach nahmen sie ihren Platz wieder ein, gingen in die Knie und beugten sich nach vorn, bis ihre Gesichter das Gras berührten.
    Cendrine öffnete eines der Fenster einen Spaltbreit, um zu hören, ob dort draußen gesprochen oder gesungen wurde. Doch der Wind, der mit jedem Tag des afrikanischen Winters heftiger um das Haus wehte, übertönte alle Laute mit seinem Wimmern und Jaulen, so daß sie das Fenster bald wieder schloß. Sie würde sich allein auf ihre Beobachtungsgabe verlassen müssen, genau wie Adrian. Sie wünschte plötzlich, er wäre hier. Er hätte ihr sicher erklären können, was dort draußen geschah.
    War der Termitenhügel für die San eine Art Gott? Beteten sie die Insekten oder aber ihr Bauwerk an? Sahen sie darin ein Symbol – und falls ja, wofür?
    Ihr war kalt in ihrem dünnen Nachthemd, und sie trat für einen Moment vom Fenster zurück, um ihren Morgenmantel zu suchen. Als sie an die Scheibe zurückkehrte, waren die San verschwunden. Überrascht öffnete sie noch einmal das Fenster und reckte den Kopf hinaus. Keine Spur mehr von den kleinwüchsigen Männern und Frauen. Nur ihre Opfergaben lagen noch immer in einem engen Kreis um den Termitenhügel.
    Cendrines Zimmer befand sich im ersten Stock, sonst wäre sie vielleicht aus dem Fenster

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