Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Zimmer lag hoch genug über den Straßenlaternen, um von dort aus die Gestirne in all ihrer Pracht beobachten zu können. Elias hatte ihre Faszination nie recht nachvollziehen können, doch einmal hatte er Cendrine eine Sternenkarte mit nach Hause gebracht, druckfrisch und so groß wie der Eßtisch, der neben ihrem Ofen stand. Sie vermutete, daß er sie irgendwo gestohlen hatte, fragte ihn aber wohlweislich nicht danach. Statt dessen studierte sie begeistert die Sternbilder, die auf der Karte mit feinen hellen Linien verbunden waren; manchmal erschienen sie ihr wie Teile eines Labyrinths, und einmal verbrachten sie und Elias eine halbe Nacht mit der Diskussion, wie lang wohl der Faden hätte sein müssen, wollte man ihn vom Eingang bis zum Ausgang dieses Irrgartens spannen. Sie hatten stundenlang miteinander über solchen Unsinn reden können und sich dabei immer tiefer in die absurdesten Spekulationen verrannt, bis sie schließlich kaum noch wußten, wie das Gespräch eigentlich begonnen hatte. Sie hatten viel miteinander gelacht, damals.
    Jetzt sehnte sie sich danach, nicht allein unter dem Seidenbaldachin liegen zu müssen. Elias und sie hatten sich von Kind an ein Bett geteilt, was in armen Familien keineswegs ungewöhnlich war: Cendrine wußte von Geschwistern in ihrem Haus, die zu viert auf einer Matratze lagen, weil den Eltern, einfachen Arbeitern in einer Fischmehlfabrik, das Geld für weitere Schlafgelegenheiten fehlte.
    Elias’ Nähe hatte Cendrine in Zeiten getröstet, in denen sie nicht wußten, wovon sie am nächsten Tag ihr Essen bezahlen sollten. Später, als Elias seinen Aufstieg im Kaufhaus begonnen hatte und es besser um ihre Finanzen stand, war es ihr längst zur Gewohnheit geworden, in seinem Arm einzuschlafen. Für ihn war sie immer die kleine Schwester geblieben, die es zu umsorgen und zu behüten galt, und da es sonst niemanden gab, der diese Aufgabe hätte übernehmen können, war es für beide die gewöhnlichste Sache der Welt. Scheu voreinander kannten sie nicht, ebensowenig Geheimnisse. Um so erschütternder war es für Cendrine gewesen, als Elias sie mit seiner bevorstehenden Auswanderung vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.
    Sie mußte sich allerdings eingestehen, daß ihre Gedanken an ihn in den vergangenen Monaten immer mehr in den Hintergrund getreten waren. Sicher, sie hatte das Büro des Gouverneurs schriftlich um Hilfe gebeten, hatte aber nie eine Antwort erhalten. Dann hatte sie es beim Postamt versucht, gleichfalls ohne Erfolg.
    Niemand schien in der Lage zu sein, ihr zu helfen.
    Cendrine schrak auf, als vor ihrem Fenster ein schrilles Kreischen ertönte. Verunsichert löschte sie die Kerze und sprang nach kurzem Zögern auf. Im Dunkeln trat sie in den Erker und blickte hinaus. Der Wind wehte von Westen und trieb den strömenden Regen vom Haus fort. Obwohl die Fensterscheiben nahezu trocken blieben, konnte sie in der Finsternis nichts erkennen.
    Das Kreischen ertönte noch einmal, diesmal weiter entfernt, doch jetzt wurde ihr bewußt, woher es rührte. Dort draußen streiften Hyänen umher, auf ihrer nächtlichen Suche nach Aas.
    Eine Handvoll dunkler Schemen huschte über die Wiese, aber vielleicht waren es auch nur die Schatten der Akazien im Wind. Unmöglich, das mit Sicherheit zu sagen. Als Cendrine die Stelle länger fixierte, erwies sie sich als verlassen. Dort war nichts, nur regengepeitschtes, kniehohes Gras.
    Mach dich nur selbst verrückt, rügte sie sich in Gedanken. Der Aberglaube der Eingeborenen färbt schon auf dich ab; bald wirst auch du an Hyänenmenschen glauben. An die Geistreisen der Schamanen. Daran, daß du selbst eine Schamanin bist.
    Der Gedanke vertrieb die Gänsehaut, die beim Schrei der Hyänen über ihre Glieder gekrochen war. Sie hatte schon alle möglichen Arten von Raubtieren in der Dämmerung vor ihrem Fenster gesehen, seit sie vor zehn Monaten hierher gekommen war, und es war albern, sich ausgerechnet heute davon aus der Fassung bringen zu lassen.
    Aber womöglich waren es ja in Wahrheit gar nicht die Hyänen, die sie so durcheinanderbrachten, sondern vielmehr das, was Adrian gesagt hatte. Und dieser Qabbo. Vielleicht war es der Umstand, daß sie ganz allmählich selbst daran zu glauben begann.
    Natürlich war es lächerlich. Und natürlich glaubte sie es nicht wirklich. Wenigstens redete sie sich das immer wieder ein.
    Qabbo gehörte einer Kultur an, die ihr durch und durch fremd war. Was er sagte und dachte, mochte aus seiner Sicht die

Weitere Kostenlose Bücher