Göttin der Wüste
Wahrheit sein. Doch Cendrine besah diese Dinge mit den Augen einer modernen, aufgeklärten Europäerin. Wie konnte er verlangen, daß sie auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, er könne recht haben?
Nein, Qabbo war nicht das Problem. Das Problem war Adrian. Er war kein Afrikaner. Gewiß, er mochte hier geboren sein, aber seine Erziehung war die eines Europäers. Und wenn es einen Menschen in ganz Südwest gab, dem sie vertraute, dann war er es. Gar nicht so sehr aufgrund dessen, was er tat oder sagte; es war vielmehr etwas in seinem Wesen, seiner Ausstrahlung, etwas, das er verkörperte und das sie doch nicht benennen konnte. Sie wußte kein Wort dafür, und es war auch unwichtig, eines finden zu wollen. Trotz all der Merkwürdigkeiten, die er von sich gab, trotz seines mysteriösen Auftauchens beim Termitenbau und seiner geheimnisvollen Fahrten nach Windhuk spürte sie, daß er auf ihrer Seite war.
Und ausgerechnet er beharrte darauf, daß sie … ja, was eigentlich? Daß sie Gedanken lesen konnte? Daß sie sich in Dinge hineinversetzen konnte, indem sie sie nur ansah? Daß sie die Macht eines afrikanischen Schamanen besaß?
Möglicherweise war gerade das der Fehler, den sie immer wieder beging. Ein afrikanischer Schamane. Wenn es ihr gelang, sich von der Vorstellung zu lösen, daß diese Begabung etwas mit dem Kontinent zu tun hatte, auf dem sie sich befand, mit dem Boden, auf dem sie stand, mit dem Sand, der Sonne, der endlosen Wüste, dann mochte es ihr eventuell auch gelingen, dieses Bild auf sich selbst zu projizieren. Zumindest soweit, daß sie den Versuch unternehmen konnte, die Fähigkeiten zu nutzen, die Qabbo und Adrian ihr zusprachen. Ohne Vorbehalte, ohne das bessere Wissen ihrer Vernunft. Einfach nur offen sein, bereit zu lernen, bereit, sich überzeugen zu lassen.
Sie barg das Gesicht in den Händen, massierte sich die Augenlider und Wangen. Was sie Adrian gesagt hatte, damals im Schatten der Akazien, war die Wahrheit gewesen: Sie hatte schon früher Bilder gesehen, die nicht vor ihren Augen, sondern nur in ihrem Kopf existierten. Keine einfachen Phantasien, keine Hirngespinste. Dinge aus dem alltäglichen Leben, nichts, das sie hätte verstören müssen: die Absicht eines betrügerischen Straßenhändlers, der ihr bald darauf verdorbenen Fisch verkaufen wollte; die Bewertungen eines Lehrers, ohne daß er die Noten verlesen hatte; den Unfall einer Kutsche, Augenblicke bevor ihr Hinterrad an einer Bordsteinkante zerbarst.
Sie hatte mit Elias darüber gesprochen, und er war davon überzeugt gewesen, daß jeder solche Anwandlungen hatte. Bald schon hatte sie sich keine weiteren Gedanken mehr darüber gemacht.
Hier und jetzt aber erschienen diese Vorfälle nach und nach in einem anderen Licht. Was, wenn Adrian recht hatte? Wenn das, was Qabbo sagte, gar kein mystischer Unfug war, sondern eine, seine, vielleicht aber auch ihre Facette der Wirklichkeit?
Draußen schrien die Hyänen ein letztes Mal, dann beherrschten nur noch das Jammern des Windes und der peitschende Regen die Nacht.
Cendrine wich zurück in die Finsternis des Zimmers. Sie sank in einen der Sessel am Kamin. Das Leder war eisig, selbst durch den Stoff ihres Kleides ließ es sie frösteln. Diener hatten die Feuerstelle säuberlich ausgefegt, es roch unmerklich nach erkalteter Asche. Aus dem Kaminschacht drang das ferne Wehklagen des Sturms.
Der Schamane läßt die Gegenstände zu sich sprechen, hatte Adrian gesagt. Nun gut, sie würde es versuchen. Sie war nicht erpicht darauf, eine Vision wie die des Termitenbaus heraufzubeschwören, deshalb mußte sie sich auf etwas konzentrieren, das harmlos war. Aber wie harmlos konnten Gegenstände in einem Zimmer sein, in dem ein kleines Mädchen vom eigenen Vater zerstückelt worden war?
Die Erinnerung an die kleine Kimberly Selkirk und ihren Vater im Blutrausch rief ihr erneut die Bilder jener Nacht vor Augen. Sie hatte nie den Versuch gemacht, Erklärungen für die Erscheinungen zu finden. Ein Traum, greifbar und bedrohlich, aber dennoch nur ein Traum. Doch tief im Inneren war ihr immer klargewesen, daß es mehr damit auf sich haben mußte. Sie glaubte nicht an Gespenster und Heimsuchungen. Was aber, wenn irgend etwas hier im Zimmer zu ihr gesprochen hatte? Oder gar das Zimmer selbst? Würde sie den Mord noch einmal erleben, wenn sie es darauf anlegte? Um nichts in der Welt war sie dazu bereit.
Die Schreie des Mädchens. Das Messer, das in ihr Fleisch schnitt. Das Blut, überall das
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