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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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älter aussah als zwanzig. Allerdings war er auf andere Weise gealtert als Valerian, dem das Leben in der Wüste zugesetzt hatte. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder war Adrian knochig, fast ein wenig mager. Während Valerian alle Anzeichen eines künftigen Haudegens trug – ein verwegener Blick und kräftige Muskeln –, zeichnete sich in Adrians Gesicht eine andere Art des Erwachsenwerdens ab. Aus seinen Augen sprach ein scharfer Verstand, gepaart mit einem hohen Grad an Menschlichkeit, der allen anderen Mitgliedern seiner Familie fehlte, einschließlich Titus. Und da war noch etwas anderes an ihm, etwas Rätselhaftes. Cendrine konnte nie voraussehen, was Adrian als nächstes tun würde. Auch jetzt nicht.
    Es war still geworden im Haus, nur hinter der nächsten Gangkehre tickte eine Standuhr.
    »Liegt Ihr Zimmer nicht in der anderen Richtung?« fragte Cendrine leise. Ihre Stimme klang belegt. Nur die Müdigkeit, redete sie sich ein.
    Während er ihre Lippen betrachtete, verspürte sie eine sonderbare Erregung. Es war lange her, daß sie etwas Ähnliches gefühlt hatte. Er beobachtete ihren Mund, obwohl sie aufgehört hatte zu sprechen, sah ihn einfach nur an.
    »Sie haben sehr schöne Lippen«, sagte er. Es war eine fast sachliche Feststellung, aber so, wie er es sagte, klang darin eine unterschwellige Wärme mit, die über das reine Kompliment hinausging.
    Beinahe hätte sie »Vielen Dank« gesagt, aber dann kam es ihr belanglos und unzureichend vor. »Sie sollten es schließlich wissen, nicht wahr?« brachte sie statt dessen hervor.
    Adrian nickte unmerklich. »Es ist nicht immer ganz leicht, Sie einfach nur anzusehen und sich auf das zu konzentrieren, was Sie sagen.«
    »Das war vorhin schon das zweite Mal, daß Sie um meinetwillen gegen Ihr besseres Wissen gehandelt haben. Erst die Zerstörung des Termitenhügels, und jetzt das, was Sie zu Ihrer Mutter gesagt haben. Legen Sie es darauf an, daß ich Ihnen etwas schulde?«
    Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Sie schulden mir nichts. Für die meisten anderen hätte ich dasselbe gemacht.«
    Sie trat näher an ihn heran, bis nur noch eine Handbreite ihre Gesichter trennte. »Ganz sicher?«
    In seinen Augen blitzte es auf. Hastig machte er einen Schritt zurück. »Sie haben es getan, nicht wahr?« fragte er beinahe erschrocken.
    »Getan?« fragte sie irritiert. »Was meinen Sie?«
    »Sie haben versucht, in mich hineinzusehen.«
    Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Das habe ich nicht!«
    »Aber ich … ich kann es fühlen.« Warum nur war er mit einemmal so außer sich?
    »Glauben Sie mir, ich habe nichts dergleichen getan.«
    »Aber Sie wissen es.«
    »Was weiß ich?«
    »Sie wissen, was ich denke.«
    Der eine Schritt Distanz zwischen ihnen schien wie von selbst immer breiter zu werden, eine Kluft, die mit jedem Atemzug weiter aufriß. Mußte er ausgerechnet jetzt wieder mit diesem Unsinn anfangen?
    Kurz entschlossen entschied sie, sich auf sein Spiel einzulassen.
    »Aber das war es doch, was Sie wollten, oder? Sie haben gesagt, daß ich versuchen soll, Sie kennenzulernen, mehr über Sie zu erfahren.«
    »Nicht so«, brachte er stockend hervor. »Das ist nicht fair.«
    Sie streckte eine Hand nach ihm aus – Herrgott, was tust du da? –, aber er wich noch einen Schritt zurück, und da ließ sie ihren Arm wieder sinken.
    Ein nervöses Lächeln zuckte über seine Züge. »Wir sehen uns morgen beim Frühstück.« Und während er an ihr vorbei trat, in einem Bogen, als hätte sie irgendeine ansteckende Krankheit, fügte er noch hinzu: »Machen Sie sich keine Sorgen mehr wegen meiner Mutter.«
    Verwirrt blickte sie ihm nach, als er davoneilte, ohne sich noch einmal umzusehen. Aus dem wirbelnden Aufruhr in ihrem Kopf kristallisierte sich allmählich eine Frage:
    Was, zum Teufel, hatte er gedacht?
    Und brauchte es für die Antwort darauf wirklich eine übersinnliche Begabung?
    ***
    Cendrine warf sich auf ihr Bett und blickte gedankenverloren zum türkisfarbenen Baldachin empor. Der Schein der einzigen Kerze, die sie auf ihrem Nachttisch entzündet hatte, lag zuckend über dem Stoff wie eine schimmernde Membran. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, jetzt im Freien liegen und zu den Sternen hinaufschauen zu können. Manchmal tat es gut, sich in der Unendlichkeit des Firmaments zu verlieren; manchmal ließ sie das ihre Sorgen vergessen.
    Früher, in ihrer engen Mansarde zwischen Bremens Giebeln, hatte sie in solchen Momenten nur die Dachluke öffnen müssen. Das

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