Göttin der Wüste
Kains Verbrechen vermenschlicht. Das Böse liegt im Menschen selbst, nicht außerhalb von ihm.«
»Kain und die Schlange sind eins«, sagte Cendrine nachdenklich, »darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr? Mensch und Teufel sind untrennbar miteinander verbunden.«
Haupt musterte sie eindringlich, als versuche er, ihre Gedanken zu lesen. Wunderte er sich schon, warum sie sich für all das so sehr interessierte?
»Mensch und Teufel sind eins«, sagte sie noch einmal.
Haupt zuckte die Achseln. »Wir alle suchen doch immer nach irgendwelchen Lehren in den alten Legenden und Überlieferungen. Was das angeht, läßt der Kain-Mythos wirklich nichts zu wünschen übrig, oder?«
Die Ironie in seinem Tonfall entging ihr keineswegs. Sie versuchte, das Thema zu wechseln. »Es gibt eine Szene im Neuen Testament, in der Jesus hinaus in die Wüste geht und –«
Er unterbrach sie. »Er geht in die Wüste und begegnet dem Versucher. Es ist der erste Auftritt des Teufels im Neuen Testament, so wie seine Händel mit Adam, Eva und Kain sein erstes Auftauchen im Alten Testament bedeuten. Ist das die Verbindung, auf die Sie hinauswollen?«
Seine Feststellung überraschte sie. Erstaunt schüttelte sie den Kopf. »Das war mir gar nicht bewußt. Nein, es geht mir um etwas anderes. Wenn Teufel und Mensch eins sind, war es dann Jesu eigene Menschlichkeit, die ihn in der Wüste in Versuchung geführt hat?« So wie es Selkirks eigener Wahnsinn war, der ihn hinaus in die Kalahari und damit in den Irrsinn trieb? »Oder hat Jesus dort draußen tatsächlich jemanden getroffen?« Wie real war der Mann, dem ich selbst in der Wüste begegnet bin? Und wie real kann solch ein Traum überhaupt sein?
»Fragen Sie das einen Bibelforscher, nicht mich. Ich bin nur ein einfacher Pfarrer, ein ehemaliger noch dazu, über den die Leute tuscheln, er sei vom Glauben abgefallen.«
»Seien Sie nicht zu bescheiden.«
Er hob nur die Schultern und schwieg.
Nach einigen Sekunden sagte Cendrine: »Ich danke Ihnen. Sie haben sich sehr viel Zeit für mich genommen.«
»Sie sind Lehrerin. Das macht uns doch fast zu Kollegen, oder?«
»Woher wissen Sie das?«
Sein Gesicht bekam noch mehr Falten, als er grinste. »Das Anwesen der Kaskadens mag ein ganz schönes Stück von hier entfernt liegen, aber glauben Sie ja nicht, die Leute in Windhuk würden es nicht mitbekommen, wenn dort eine neue Gouvernante ihren Dienst antritt. Eine so junge und hübsche noch dazu.«
»Ich schätze, Sie dürfen mir schmeicheln, nachdem Sie Ihr Amt niedergelegt haben, oder?«
Sein Grinsen wurde noch breiter. »So oft und so lange, wie es mir gefällt. Vorausgesetzt, es stört Sie nicht.«
Sie seufzte. »Manchmal tut es ganz gut, zur Abwechslung etwas Nettes zu hören.«
Er nickte verständnisvoll. »Madeleine Kaskaden ist gewiß keine einfache Frau.«
»Nein, wohl kaum.« Sie zögerte einen Augenblick, überlegte, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, beließ es dann aber bei einem weiteren Dankeschön. Schließlich verabschiedete sie sich von ihm und verließ den Laden.
Der alte Mann blieb in der Tür stehen und blickte ihr nach. »Kommen Sie jederzeit wieder, Fräulein Muck. Hören Sie? Jederzeit, wann immer es Ihnen beliebt!«
Sie warf ihm ein letztes Lächeln zu, dann überquerte sie die Straße.
***
Haupt beobachtete, wie Cendrine sich entfernte, dann trat er zurück in seinen Laden und hängte das Geschlossen -Schild ins Fenster der Tür. Mit müden Schritten durchquerte er den Raum und öffnete die schmale Tür an der Rückseite.
»Sie ist fort«, rief er ins Hinterzimmer. »Du kannst rauskommen.«
Er hätte es gar nicht so laut sagen müssen, denn Adrian konnte ihn ohnehin nicht hören. Er sah nur, wie sich Haupts Lippen bewegten, das genügte.
Aufatmend trat Adrian aus dem Zimmer in den Laden und schaute zur Tür. Er konnte den leichten Hauch ihres Parfüms riechen, der noch immer in der Luft hing. Cendrine benutzte es äußerst dezent, an den meisten Tagen überhaupt nicht, aber Adrian genügte der leichteste Geruch, um einen Menschen zu erkennen.
»Was hast du ihr erzählt?« fragte er den alten Mann.
»Alles, was sie wissen wollte.«
»Hat sie nach den San gefragt? Oder nach den Schamanen?«
»Nein.«
»Was dann?«
Ein väterliches Lächeln spielte um Haupts schmale Lippen. »Es gibt Dinge zwischen einem Mann und einer Frau, die man Dritten nicht erzählt, wußtest du das nicht?«
»Komm schon, Jakob«, sagte Adrian seufzend. »Dein Charme in allen
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