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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Madeleine, ohne Cendrine anzusehen.
    Salome war weniger zurückhaltend. »Von wem ist der Brief?« rief sie aufgeregt. »Oh, Fräulein Muck, erzählen Sie doch!«
    »Von … niemandem«, entgegnete sie verdattert.
    »Muß ja ein interessanter Brief sein, wenn niemand ihn geschrieben hat«, bemerkte Adrian. »Ziemlich leer, sollte man annehmen.«
    Cendrine blickte ihn finster an, und Adrian konzentrierte sich mit einem Grinsen wieder auf sein Marmeladenbrot.
    Madeleine gab noch eine Weile länger vor, das Schreiben würde sie nicht interessieren, doch dann legte sie abrupt Messer und Gabel ab, und ein breites Lächeln erschien auf ihren Zügen. »Ist es von Ihrem Bruder?« fragte sie geradeheraus.
    Völlig verblüfft starrte Cendrine sie an. Sie lebte seit mittlerweile dreizehn Monaten im Haus der Kaskadens, und in all der Zeit hatte sie keiner Menschenseele von Elias’ Reise nach Südwest erzählt.
    »Wie kommen Sie darauf?« fragte sie tonlos.
    Madeleines Lächeln blieb herzlich. Cendrine konnte sich nicht erinnern, sie jemals so freundlich erlebt zu haben. Es war fast, als freue sie sich ebenso über den Brief wie Cendrine selbst.
    »Meine Liebe«, sagte Madeleine gedehnt, »glauben Sie denn wirklich, ich wüßte nicht Bescheid über Ihren Bruder?«
    »Aber woher –«
    »Sie scheinen uns zu unterschätzen, mein Kind.« So hatte Madeleine Cendrine noch nie genannt. Mein Kind. »Bevor mein Mann Sie einstellte, hat er natürlich einige Informationen über Sie eingeholt. Oh bitte, ärgern Sie sich nicht darüber. Das ist nichts Ungewöhnliches, glauben Sie mir.«
    Cendrine nickte ruckartig. Es war durchaus üblich, daß eine Herrschaft mehr über die Frau wissen wollte, die ihre Kinder erziehen sollte.
    »Soweit ich weiß, beauftragte mein Mann jemanden in Bremen, Ihre Unterlagen zu prüfen, einige Urkunden einzusehen und so weiter.« Madeleine winkte ab, als sei dies alles nebensächlich. »Es gehörte natürlich nicht viel dazu, sich auszumalen, daß Ihre Zusage, hierher zu kommen, auch mit Ihrem Bruder zu tun hatte. Sie haben lange nichts mehr von ihm gehört, nicht wahr?«
    Cendrine ließ ihren Blick von Madeleine über die beiden Mädchen bis zu Adrian wandern. Alle sahen sie erwartungsvoll an; sogar Adrians Augen waren geradewegs auf sie gerichtet, obwohl er so nicht verstehen konnte, was seine Mutter sagte.
    Sie haben es alle gewußt, schoß es ihr durch den Kopf. Sie haben es die ganze Zeit über gewußt!
    »Wie Sie wissen, ist der Einfluß unserer Familie in Südwest beträchtlich«, fuhr Madeleine ohne jede Überheblichkeit fort. »Dennoch war es nicht einfach, Ihren Bruder ausfindig zu machen. Gleich nachdem mein Mann Sie kennengelernt hatte, setzte er alle Hebel in Bewegung, um Ihren Elias suchen zu lassen. Daß es dennoch ein Jahr in Anspruch genommen hat, mag Ihnen verdeutlichen, wie sorgfältig er all seine Spuren gelöscht hatte.«
    Cendrines Kopf fühlte sich an, als hätte man einen Insektenschwarm darin freigelassen. Ihre Gedanken drehten sich rasend im Kreis, und in ihren Ohren war plötzlich ein Pfeifen und Surren, als würde das Blut gleich aus ihren Trommelfellen schießen.
    »Seine Spuren … gelöscht?« wiederholte sie verwirrt.
    »Keine Sorge, mein Liebe«, sagte Madeleine geschwind. »Das hat nichts zu bedeuten, wirklich nicht. Hier in Südwest gehen Menschen verloren wie anderswo ein Füllfederhalter. Die Wüste und der Wind verwischen Spuren, auch ohne daß man selbst etwas dazu beiträgt.«
    Sie machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Kaffee, ganz augenscheinlich, um die Spannung des Augenblicks auszukosten.
    »Wie gesagt, es hat lange gedauert, bis wir Ihren Bruder fanden, aber schließlich ist es doch noch gelungen. Ich selbst schrieb ihm vor etwa vier Wochen einen Brief, und wie Sie sehen, da ist auch schon seine Antwort.« Sie deutete auf das Kuvert, das Cendrine jetzt wieder in die Hand genommen hatte und mit bebenden Fingern festhielt.
    »Es sollte eine Überraschung sein. Sehen Sie es einfach als verspätetes Geburtstagsgeschenk.«
    Cendrines dreiundzwanzigster Geburtstag war vor sechs Wochen gewesen, Ende Mai, und beinahe hätte sie jetzt gesagt: Aber ich habe doch schon meine Geschenke bekommen. Dann klärte sich ihr Denken allmählich, und sie erkannte, daß sie im Begriff war, sich lächerlich zu machen, wenn sie noch länger so dasaß, schwieg oder dummes Zeug stammelte. Alles schauten sie an. Alle warteten darauf, daß sie endlich den Brief öffnete.
    Sie wollte sich

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