Göttin der Wüste
und sich wie hungrige Raubtiere auf die Mörder ihrer Familie stürzen … wieder Blut, das lautlos in den Staub spritzt, Herero-Blut …
Cendrines Blick war fest auf den kleinen Jungen gerichtet. Er hatte ihr die Seite zugewandt, sie konnte sein Profil sogar durch die Vorhänge aus Regen erkennen. Er hatte noch nicht die verkniffenen Züge der erwachsenen San-Männer. Trotz der niedrigen Arbeit, die er verrichtete, hatte es den Anschein, als wäre er mit Begeisterung bei der Sache. Flink und fleißig reinigte er die Stiefel des Soldaten, bis das Leder glänzte.
Ein Mann und eine Frau, beide nackt, lieben sich auf dem Steinboden einer vorzeitlichen Tempelanlage … Henoch, das Kind, vor der Silhouette von Henoch, der Stadt, ein winziges Lebewesen vor einer überwältigenden Masse aus Fels und Holz und Sand.
Der kleine San war beinahe fertig mit seiner Arbeit, als ihn plötzlich ein heftiges Zucken durchlief. Der Polierlappen fiel ihm aus den Händen, breitete sich fleckig über die Bretter der Postveranda. Der Soldat blickte verblüfft von seiner Zeitung auf. Der Oberkörper des Jungen, der immer noch im Schneidersitz saß, wurde stocksteif, begann sich dann zu schütteln wie unter einer unglaublich heftigen Fieberattacke.
Weiß gescheuerte Knochen im Sand … Nama-Knochen … Herero-Knochen … Damara-Knochen … San-Knochen …
Cendrine fiel die Teetasse aus der Hand. Das Porzellan zersprang mit einem klirrenden Laut auf den Bodenbrettern. Irgendwo hinter dem Fenster des Cafés rührte sich etwas Weißes, ein Schemen huschte hinter dem staubigen Glas heran. Der San-Junge auf der anderen Straßenseite begann zu schreien, hoch und schrill, und seine Lippen formten Silben, Worte, immer wieder dieselben.
Eine Stadt … hoch wie der Himmel … aus Menschenknochen … durch ihre Kanäle strömt Blut … wird nie versiegen … Unsterblichkeit … für immer … dann kommt der Sand … Sand …
Cendrine sprang auf. Jenseits der Schlammpiste wälzte sich der Junge am Boden. Der Soldat beugte sich über ihn, fuhr dann zurück, aus Angst, sich mit einer Krankheit zu infizieren. Der Kleine kreischte und strampelte, brüllte immer wieder dieselben Worte, atemlos, in Todesangst. Worte in der Sprache der San. Cendrine verstand sie trotzdem.
Im selben Moment rollte sich der Junge herum, ihre Blicke trafen sich. Anklagend streckte er den Arm aus, sein Zeigefinger deutete starr auf Cendrine, krümmte sich dann wieder wie der Rest des kleinen Körpers, geschüttelt von Spasmen und Schreien.
Doch auch ohne den Fingerzeig blieb die Anklage bestehen, in einer Sprache, die keiner der Deutschen verstand, die jetzt überall aus den Fenstern schauten oder unter die Vordächer und Markisen traten.
Das Albinomädchen beugte sich über den Tisch, sah die zersplitterte Tasse, sah das Entsetzen in Cendrines Gesicht, sah und hörte auch den Jungen auf der anderen Straßenseite. Es sagte etwas. Träge, hallende Worte, die irgendwo in den Tiefen von Cendrines Wahrnehmung verklangen, ungehört.
Niemand wußte, was mit dem Jungen vor sich ging. Keiner verstand, was er rief, immer und immer wieder, bis ihm gänzlich die Sinne schwanden. Sogar in der Bewußtlosigkeit schlugen seine Glieder noch um sich wie Krallen einer Raubkatze im Todeskampf.
Der böse Blick.
Cendrine sprang so heftig auf, daß ihr Stuhl nach hinten kippte und von der Veranda in den Schlamm schlitterte. Das Albinomädchen taumelte erschrocken zurück, und Köpfe wandten sich um, hofften nach der ersten Sensation schon auf die nächste.
Cendrine stürmte davon, ohne zu bezahlen, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie rannte durch den Regen, bis sie glaubte, ihre Lungen müßten platzen, rannte, bis sie den Bahnhof vor sich sah und die Kutsche und davor einen kleinen schwarzen Mann in der Livree eines Butlers.
Johannes blickte ihr ausdruckslos entgegen und sagte kein Wort.
KAPITEL 4
Zweieinhalb Monate später, Anfang Juli, erhielt Cendrine einen Brief. Auf der Rückseite des Kuverts standen nur zwei Worte.
Elias – Skelettküste.
Beinahe hätte sie den Umschlag in das Eigelb auf ihrem Teller fallen lassen. Die anderen sahen sie verwundert an, und falls jemand sie ansprach, so hörte sie es nicht. Das einzige, woran sie denken konnte, war, in ihr Zimmer zu laufen und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Das Kuvert aufzureißen.
Aber sie beherrschte sich, legte den Brief neben ihren Teller und war bemüht, die Ruhe zu bewahren.
»Ein Nachricht von zu Hause?« fragte
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