Göttin des Frühlings
flüsterten. Ihr Blick war so verschwommen von den ungeweinten Tränen, dass ihr Sehvermögen so wirr war wie ihre Gedanken. Irgendwo in ihrem Kopf stellte sie fest, dass sie dankbar war, nicht von den Toten angesprochen zu werden. Sie konnte heute nicht ihre Göttin sein.
Als Persephone vorbeiging, hielten die Toten inne. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren. Ihr Blick war glasig, sie schien niemanden zu hören. Die Göttin hatte den ungelenken Gang einer frisch Gestorbenen. Sorge keimte im Elysium auf.
Lina ging weiter. Sie würde zurechtkommen. Sie würde es schaffen. Mit der Zeit würde es nicht mehr so wehtun. Diese drei Sätze waren ihre vertraute Litanei.
Sie waren ihr Mantra geworden, als ihr Mann sie wegen einer jüngeren Frau sitzen ließ. Sie hatten ihr durch die darauf folgenden schlaflosen Nächte und zerbrochenen Träume geholfen. Sie hatten Lina in den anschließenden enttäuschenden Beziehungen stark gemacht. Und diese Worte hatten sie beruhigt, als ihr klar geworden war, dass sie wahrscheinlich niemals wieder jemanden lieben würde.
Sie würde zurechtkommen. Sie würde es schaffen. Mit der Zeit würde es nicht mehr so wehtun.
Eine boshafte Brise trug den betäubenden Duft von Narzissen heran. Lina zuckte zusammen und wich vor dem Blumenbeet zurück. Sie änderte die Richtung, suchte einen Weg um die wunderschönen Blüten herum, wählte den Pfad so, dass sie an möglichst wenigen Blumen vorbeikam.
Ihre Hand betastete ihre Brust, wo die Narzisse aus Amethyst an der Silberkette baumelte. Was hatte dieses Geschenk tatsächlich zu bedeuten? Es war kein Symbol seiner Liebe, seine Sätze in der Schmiede hatten das schmerzhaft klar gemacht. Lina blinzelte mehrmals. Im Kopf hörte sie noch immer das Echo seiner gefühllosen Worte. Ihre Finger strichen über den wunderschön gearbeiteten Umriss der Narzisse. Bezahlung für geleistete Dienste, mehr war das Geschenk nicht gewesen. Hades – eine andere Art von Gott? Linas spöttisches Lachen kam als Schluchzer heraus. Ihre Hand schloss sich um den Edelstein, sie zerrte daran, bis die zarte Kette riss.
»Demeter hatte recht. Ich hätte es besser wissen müssen.« Lina warf die Kette zu Boden und ging weiter. Sie sah sich nicht danach um.
Sie würde zurechtkommen. Sie würde es schaffen. Mit der Zeit würde es nicht mehr so wehtun.
Als sich die Landschaft zu ändern begann, war Erleichterung das einzige, was Lina empfand, weil sie jetzt keinen Narzissen mehr aus dem Weg gehen musste. Auch schwebten nun weniger Totengeister am Rande ihres Blickfelds, das war ebenfalls eine Erleichterung für sie. Nebenbei bekam sie mit, dass es dunkler wurde, aber die Bäume waren sehr hoch und standen dicht. Sie mochten durchaus das pastellfarbene Tageslicht der Unterwelt ausschließen. Außerdem war sie ziemlich lange gelaufen – zumindest glaubte Lina das. Sie fühlte sich nicht müde. Genau genommen fühlte sie so gut wie überhaupt nichts. Der Gedanke brachte sie fast zum Lächeln. Demeter hätte sich keine Sorgen machen müssen. Die Götter unterschätzten die Belastbarkeit sterblicher Seelen.
Wahrscheinlich sollte sie sich langsam auf den Rückweg zum Palast machen. Eurydike wartete bestimmt darauf, ihr die Zeichnungen zu präsentieren. Lina würde die fröhliche Gesellschaft des kleinen Geistes genießen, dann würde sie ein langes Bad nehmen. Keine Dusche auf dem Balkon – ihr Kopf sträubte sich bei der Vorstellung –, sondern ein langes, entspannendes Bad. In der Zeit, die ihr in der Unterwelt noch blieb, würde sie Hades einfach aus dem Weg gehen. Das sollte nicht zu schwer sein. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er zu beschäftigt war, um sich um sie zu kümmern. Anstatt dem Gott nachzuweinen, würde sie die Zeit mit Eurydike verbringen, doch sie wäre aufrichtig zu dem Geist, was die zeitliche Beschränkung ihres Besuchs anging. Außerdem würde sie die Kleine davor warnen, sich in Iapis zu verlieben. Er wirkte vertrauenswürdig, aber das war Hades auch gewesen …
Ihr Verstand verdrängte den Rest des Gedankens.
Sie würde mit Orion ins Elysium reiten und sich den Geistern als Frühlingsgöttin zeigen. Aber sie wäre dort ebenfalls vorsichtiger. Die Toten hatten es verdient zu wissen, dass Persephones Aufenthalt zeitlich begrenzt war. Sie konnte ihnen sagen, dass sie sich in der Welt oben weiterhin um sie sorgen würde, dann bliebe ihr nur noch zu hoffen übrig, dass die wahre Göttin des
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