Goettin in Gummistiefeln
Stimme. »Leider zu viele Touristen, aber ...« Er zuckt mit den Schultern.
»Ich hatte ja keine Ahnung!« Wir gehen weiter die Straße entlang, doch ich kann nicht aufhören, mich mit großen Augen umzuschauen. »Sieh dir diesen Fluss an! Und dieses kleine Kirchlein!«
Ich fühle mich wie ein Kind, das ein neues Spielzeug entdeckt hat. Eigentlich kenne ich England von dieser Seite so gut wie gar nicht. Wir waren immer in London oder gleich im Ausland. Ich war öfter in der Toskana, als ich zählen kann, und einmal sogar sechs Monate in New York, als Mum vorübergehend dorthin versetzt worden war. Aber in den Cotswolds war ich bisher noch nie.
Wir überqueren den Fluss auf einer alten, bogenförmigen Steinbrücke. Ich bleibe am Scheitelpunkt stehen und schaue zu den Enten und Schwänen hinunter.
»Herrlich«, schwärme ich. »Einfach herrlich.«
»Hast du das denn nicht gesehen, als du hier ankamst?«, erkundigt sich Nathaniel amüsiert. »Oder bist du in einer Seifenblase gelandet?«
Ich muss an jene Fahrt denken, an meine Panik, meine dumpfe Lähmung. Wie ich mit hämmernden Kopfschmerzen aus dem Zug gestiegen bin, nichts richtig wahrgenommen habe.
»So in der Art«, antworte ich schließlich.
Wir beobachten gemeinsam ein Schwanenpärchen, das hoheitsvoll unter der kleinen Brücke hindurchgleitet. Dann werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Schon fünf nach zehn.
»Wir müssen weiter«, sage ich erschrocken. »Deine Mutter wartet sicher schon auf uns.«
»Nur keine Eile«, ruft Nathaniel mir nach, als ich über die Brücke haste. »Wir haben den ganzen Tag Zeit.« Lässig läuft er die Brücke hinunter und hat mich mit wenigen Schritten eingeholt. »Warte. Du brauchst dich nicht hetzen.«
Er geht weiter, und ich versuche mich seiner gemütlichen Gangart anzupassen. Aber es ist so ungewohnt. Ich bin es gewöhnt, durch die Stadt zu hetzen, mir mit ausgefahrenen Ellbogen den Weg durchs Menschengewimmel zu erkämpfen.
»Und - bist du hier aufgewachsen?«, frage ich, angestrengt dahinschlendernd.
»Jep.« Er biegt in eine kleine Kopfsteingasse zur Linken ein. »Ich kam wieder zurück, als mein Dad krank wurde. Als er starb, musste ich mich um alles kümmern. Auch um Mum. Es war ganz schön hart für sie. Und die Finanzen ... es war ein ganz schönes Durcheinander.«
»Tut mir Leid«, sage ich verlegen. »Und hast du noch Geschwister?«
»Einen Bruder. Jake. Ist für eine Woche gekommen.« Nathaniel zögert. »Er hat seine eigene Firma. Ist sehr erfolgreich.«
Sein Ton ist entspannt wie immer, doch da ist etwas Unterschwelliges, das mir rät, lieber nicht weiter nachzufragen.
»Tja, ich würde eigentlich gern hier leben«, verkünde ich fröhlich.
Nathaniel wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Du lebst doch hier.«
Stimmt. Ich lebe hier. Theoretisch.
Ich gehe weiter und lasse dabei diesen Gedanken einsinken. Ich habe bis jetzt noch nie irgendwo anders gewohnt, immer nur in London. Das heißt, abgesehen von den drei Jahren Cambridge. Aber ich hatte immer eine Londoner Postleitzahl. Eine Londoner Vorwahl. Das bin ich. Das ... war ich.
Doch schon jetzt ist mein altes Ich ein wenig in die Ferne gerückt. Wenn ich zurückdenke, nur an die letzte Woche, kommt es mir vor, als würde ich mich durch Pauspapier sehen.
Ich habe alles, was mir einmal wichtig war, verloren. Und darunter leide ich noch immer. Aber gleichzeitig ... gleichzeitig fühle ich mich lebendiger, zuversichtlicher und freier als je zuvor. Die Welt ist wieder voller Möglichkeiten. Ich atme tief ein und auf einmal überkommt mich ein inniges Glücksgefühl, ja Euphorie. Impulsiv bleibe ich vor einem mächtigen Baumriesen stehen und blicke in die dicht belaubte grüne Krone hinauf.
»Es gibt da ein wundervolles Gedicht von Walt Whitman über eine Eiche.« Ich hebe die Hand und streiche liebevoll über die kühle, raue Rinde. »>I saw in Louisiana a live-oak growing. All alone stood it and the moss hung down from the branches. <«
Ich werfe Nathaniel einen Blick zu, um zu sehen, ob ich ihn vielleicht zufällig ein klein wenig beeindruckt habe.
»Das ist eine Buche«, sagt er und weist mit einem Kopfnicken auf den Baum.
Ach. Naja.
Also ich kenne kein Gedicht über Buchen.
»Da wären wir.« Nathaniel stößt ein altes schmiedeeisernes Gatter auf und winkt mich hinein. Ein schmaler Steinpfad führt auf ein malerisches kleines Cottage mit blaugeblümten Vorhängen zu. »Wird Zeit, dass du deine Kochlehrerin kennen lernst.«
Nathaniels
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