Goettinnensturz
Brücke im Zentrum des Kurparks, so laut, dass Berenike sich die Ohren zuhalten wollte.
Hier sollte es also sein, dem Telefonanruf nach zu schließen. Und tatsächlich, da lag eine Gestalt, unter der Brücke, ein verkrümmter Körper, von grellem Licht beleuchtet, blutige Verletzungen im Gesicht. Der nackte, blasse Oberkörper des Toten am sandigen Ufer, die behosten Beine bewegten sich in der Strömung der Hochwasser führenden Traun, als würde er tatsächlich paddeln. Der ganze Körper nass, selbst die Haare, als wäre er von der Traun angeschwemmt worden.
Ein Vogel piepste, ein Wunder, dass seine Stimme gegen das Geprassel überhaupt ankam. Der Regen hatte tatsächlich nachgelassen, die Tropfen trafen nur mehr sachte auf die Blätter, wie ein Streicheln. Kalt war es immer noch. Berenike kuschelte sich in ihre Lodenjacke – ein Zugeständnis an das feuchtkalte Ausseer Klima. Der Himmel wurde grauer, heller. Morgendämmerung. Ein Mann mit Nordic-Walking-Stöcken betrat weit entfernt den Kurpark, nichts ahnend. Er hatte sich eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Breite Hüften, Bauch. Ein zweiter Mann begleitete ihn, ohne Stöcke hastete er neben dem anderen her.
»Nike?«
Berenike schrak zusammen. Sie hatte nicht auf die schwarz gekleidete Gestalt geachtet, die von der Leiche aufsah und näher kam.
»Jonas. Jonas!« Sie wusste mit einem Mal nicht weiter. So viel, was sie ihm sagen wollte – und davon kein einziges Wort parat. »Ich habe schon gedacht – ich weiß nicht …« Einen endlosen Moment lang sahen sie sich an. Als gäbe es keine Leiche, keine Vogelstimmen und keine Zuschauer. Als gäbe es überhaupt nichts mehr. Als wären sie allein auf der Welt. Auf einer Insel, die nur ihnen gehörte.
»Was machst du denn hier, Berenike?«
»Ich … habe den Notruf gewählt.«
»Ach, das wusste ich nicht. Der Kollege hat nur eine Zeugin erwähnt, ich habe mich noch nicht darum gekümmert. Also, was ist passiert? Hast du die Leiche entdeckt?«
»Nein. Mein Telefon hat mitten in der Nacht geläutet.«
»Und?«
»Und … eine Stimme hat mir eine Leiche angekündigt.«
»Und da hast du den Notruf unter 133 angerufen.« Es klang nicht wie eine Frage.
»Na ja, ich bin aus dem Schlaf hochgeschreckt.« Mit einem Mal kam es ihr komisch vor, dass sie nicht ihn informiert hatte. »Ich war durcheinander.« Sie scharrte mit einem Fuß über den nassen Kies. Jonas bewegte sich nicht, stand immer noch knapp vor ihr. Sie hätte nur die Hand ausstrecken brauchen und …
Was sollte sie sagen? Sie war eben ausgezuckt. Weil man sie zu oft im Leben aus dem Weg geschoben hatte. Weil sie das alles satthatte, und weil sie die Nazi-Geschichten nicht mehr hinnehmen wollte. Dieses Grinsen im blondumrahmten Gesicht … da hatte sie mitten hineingeschlagen. In das Lächeln.
Tief durchatmend blickte Berenike zu Jonas auf. Sie stand so nahe bei ihm, dass sie sehen konnte, wie sich seine Brust hob und senkte, ja, sogar hören konnte sie, wie er Luft holte. Ein paar letzte Regentropfen rannen in ihren Nacken. Eine Krähe saß schwarz und stumm auf einem Ast über ihr. Schlug ihr Herz überhaupt noch? Offensichtlich. Sie fror, wusste nicht weiter, ließ die Schultern kreisen.
»Langsam, Berenike.« Jonas machte einen winzigen Schritt auf sie zu, endlich. Blieb stehen, der Kopf ganz nahe an ihrem. Dann verschränkte er die Arme vor dem Körper. Er trug nur einen dünnen schwarzen Pulli, weißes Verbandszeug lugte unter dem Ärmel hervor, leuchtete im sanften Zwielicht. Der Himmel hinter dem Kurpark färbte sich zaghaft violett. Jonas stand da, seine Augen nahmen die Farbe des Himmels an. Die Wolkendecke riss auf, färbte sich rosa und plötzlich, wie eine Verheißung, trat golden gleißend die Sonne hervor. Wenn Jonas noch einen Schritt – nur noch einen einzigen – machen würde. Dann könnte sie, würde sie …
Berenike verlor den Gedanken, wie alle anderen zuvor.
»Nike, bitte, erzähl der Reihe nach. Jemand hat dich angerufen?«
»Genau.« Sie nickte heftig, der Nacken knackste. »Um 3 Uhr 57. Ich hab auf den Wecker geschaut. Ich bin ziemlich erschrocken.«
»Ein Anruf am Handy«, sagte sie schnell, damit sie alles hinter sich hatte. »Jemand sagte, hier an der Mercedes-Brücke sei eine Leiche.« Sie schnappte keuchend nach Luft.
»Und die Nummer?«, fragte Jonas hoffnungsvoll.
»Wurde unterdrückt.«
»Hast du etwas an der Stimme erkennen können?«
»Nein …«
»Irgendeinen
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