Goettinnensturz
mutmaßte Berenike.
»Nein, in dem Fall müsste man blutige Kratzer und Schnittwunden sehen. Und schaut hier die kleinen, geformten Schürfungen innerhalb der halbrunden Verletzung an.«
»Und das heißt?«
»Spann uns nicht auf die Folter«, machte Jonas.
»Ein Schuh«, sagte Reinhard.
»Ein Schuh?«
»Ein Schuh. Das Einzige, was mir zu dieser Sache einfällt. Stell dir eine Sohle vor und deren Absatz.«
»Worauf willst du hinaus?«
»G’nagelte. Die Abdrücke der Nägel könnten dieses Muster ergeben auf der Haut.«
Jonas kramte in seiner Jackentasche, zog eine Brille heraus, setzte sie auf. Die musste neu sein! Stand ihm gut, das Gestell mit dem dunklen Rahmen. Aufmerksam besah er sich von allen Seiten die Verletzungen. »Könnte sein, dass du recht hast. Das heißt, ein Wanderschuh als Tatwaffe?«
»Muss was Robustes gewesen sein. Handarbeit, nix aus China, wo alles nur geklebt ist.«
»Und nicht lange hält«, mischte sich Berenike automatisch ein. Irritiert sahen die Männer zu ihr hoch. Jonas mit Brille auf der Nase wirkte fremd. Und chic.
»’tschuldigung, fiel mir nur so ein.« Sie schüttelte den Kopf über sich selbst.
»Also Goiserer«, sagte Jonas und nahm die Brille ab.
Mit dem eigenen Schuh erschlagen, dachte Berenike und sah die nackten Füße des Mannes an. Goiserer. Zweifach genähte, robuste Fußbekleidung, die der Legende nach ein Bergführer erfunden hatte, nachdem er sich bei einem Unfall über sein steifes Schuhwerk geärgert hatte, das ihm die Rettung erschwert hatte. Später ließ sich Kaiser Franz Josef als passionierter Jäger ebenfalls Schuhe in Goisern anmessen. Sein Hofstaat machte es ihm prompt nach. Ein Paar Schuhe kostete damals einen Monatslohn.
»Oder Haferlschuh. Irgendwas in der Art.« Reinhard ließ einen Finger über die Wunden gleiten. »Etwas, womit man in den Bergen unterwegs ist. Das würde die Schwere des Schlages erklären.«
Jonas schaute auf, weil sich ein dicklicher Mann um die 50 mit schnellen Schritten vom Hauptplatz her näherte. »Was ist mit Motorradstiefeln?«
»Verdächtigst du etwa mich?« Reinhard lachte dröhnend. Ein Seitenblick traf Berenike. »Oder deine Freundin? Oder gar dich selbst?«
»Haha. Es ist nur …« Jonas unterbrach sich, an der Absperrung entstand Unruhe. Der Dicke war nahe heran gekommen, versuchte, einen Uniformierten wegzuschieben.
»Moment, bleiben Sie stehen!«, rief Jonas.
Der Dicke stoppte abrupt. »Um Himmels willen!« Er keuchte und sah Jonas an. »Was für ein Unglück!«, rief er und zupfte an seinem rot karierten Hemd, das um die Mitte spannte. »Ich bin der Tourismusdirektor, Karger mein Name.« Er deutete eine Verbeugung an, räusperte sich. »Man hat mir von einer Leiche …« Dann bemerkte er den Toten. »Jössas – das ist ja der Klein Anselm. Der hat dort drüben seine Schuhwerkstatt. Und wohnen tut er im Stock direkt darüber. Was ist denn passiert? Ein Unfall?«
»Ermordet«, sagte Jonas und sah Karger abwartend an.
»Nein! Wie gibt’s denn das? Was für ein Unglück. Was sollen wir denn, wer wird jetzt …« Der Dicke schnaufte, zerrte ein Taschentuch hervor. Blütenweiß, nicht kariert wie sein Hemd.
»Was meinten Sie mit den letzten Worten?«, fragte Jonas sanft und blinzelte, weil ein vorwitziger Sonnenstrahl zwischen den Wolken hindurchkam und ihn traf.
»Ich meine«, der Tourismusdirektor hustete in das Taschentuch, »ich meine, dass Anselm für das Narzissenfest die Schuhe für die Hoheiten herstellen wollte. Uns kommen sämtliche Ausstatter abhanden, das ist nicht zu fassen! Zum Verrücktwerden! Nach Bernd nun der Schuhmacher.«
»Gab es Konkurrenz unter denen, die gern ausgestattet hätten?«, fragte Jonas.
»Gehn’s, bei uns in der Region ist das kein Thema. Wir ziehen hier alle an einem Strang.« Karger schnäuzte sich und sah halb zu Jonas auf. »Sagen Sie, Herr … ähm … Inspektor …?«
»Lichtenegger«, brummte Jonas automatisch.
»Herr Lichtenegger, Sie und Ihre … Kollegen, wie lang brauchen Sie hier? Sie sind doch bald fertig? Und weg? Und er da auch?« Karger deutete mit seiner Schuhspitze auf den Toten. »Also, weg?«
Fast hätte Berenike laut gelacht, wie Jonas mit offenem Mund dastand, für einen kurzen Moment sprachlos.
»Bad Aussee ist Kurstadt, meine Herren«, fuhr Karger fort, nunmehr mit weinerlicher Stimme. »Wir leben von unseren Gästen. Wir möchten ihnen unsere Stadt von ihrer besten Seite präsentieren. Ohne Mordopfer. Das haben unsere
Weitere Kostenlose Bücher