Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
Vom Netzwerk:
einem Zug. Plötzlich vermisste sie etwas. Verwirrt setzte sie den Becher ab und wandte sich um. Sogleich wurde ihr bewusst, was ihr fehlte: das Trällern des Vogels! Gab er sich auch im Allgemeinen sehr scheu, so pflegte er doch wenigstens sein zweizeiliges Lied anzustimmen, wenn sie den Raum betrat. Angestrengt lauschte sie in die Stille. Ein dickes Insekt brummte, eine Fliege schwirrte durch die Luft. Vorsichtig näherte sich Editha dem Vogelbauer. Eine leise Ahnung beschlich sie, was sie dort erwarten würde. Tatsächlich! Die Stange war leer. Reglos lag der grüngelbe Vogel auf dem Boden. Sie schlug die Hand vor den Mund. Es würgte und schüttelte sie heftig. Nach Luft ringend, stolperte sie zum Tisch, griff blindlings nach einer der Schalen und übergab sich.
    »Gütiger Gott!« Die alte Magd tauchte in der Tür auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und starrte erschrocken auf Editha. Die brachte es kaum fertig, den Kopf zu heben, schon würgte es sie von neuem. Über dem widerlichen Lärm, den ihr Husten und Prusten verursachte, hatte sie Annas schlurfende Schritte überhört.
    Unerwartet flink eilte die Alte zu ihr, fasste sie mit einem Arm um den Leib, hielt ihr mit der zweiten Hand Haare und Haube aus dem Gesicht. Drei-, viermal übergab sich Editha noch in die Schale. Mit jedem Mal wurde es weniger und bitterer. Dann meinte sie, sich alles aus den Tiefen ihres Leibes herausgewürgt zu haben.
    Ein wissendes »Oh!« entschlüpfte Anna, die sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Zögernd nahm sie die knochigen Finger von Editha. Der Blick, den sie ihrer Herrin zuwarf, sagte alles: In diesem Alter! Wut erfasste Editha. Sie griff sich einen Zipfel des leinenen Tischtuchs und tupfte sich Lippen und Mundwinkel trocken. Dann richtete sie sich würdevoll auf und sah die Magd herausfordernd an.
    »Du liegst richtig, meine Liebe. Es gibt einen sehr guten Grund für mein Unwohlsein. Bevor du jetzt in die Diele eilst und es in alle Himmelsrichtungen hinausposaunst, räumst du erst mal die Stube auf.«
    »Ja«, knurrte Anna und machte sich bereits daran, die Tafel abzuräumen. Editha sah ihr eine Weile unschlüssig zu, dann raffte sie den Rock und eilte zur Tür. Kurz davor hielt sie noch einmal inne, drehte sich langsam um und erklärte so ruhig wie möglich: »Vergiss auch den Vogelkäfig nicht. Unserem kleinen Sänger ist es wohl zu heiß geworden. Sorg dafür, dass bis zum Mittag alles wieder rein ist.«
    Annas graue Augen weiteten sich vor Entsetzen, die Flügel ihrer Haube flatterten aufgeregt.
    »Ich weiß, ich weiß, kein gutes Zeichen«, bemühte Editha sich um einen beiläufigen Ton. »Doch es muss niemand wissen, dass am selben Morgen, an dem mir mein gesegneter Umstand bewusst wurde, das Tier von der Stange gekippt ist.«
    Sie wandte sich wieder um und eilte hinaus. Je weiter sie die Treppe hinabstieg, desto besser fühlte sie sich. Besonders wohltuend empfand sie die Kühle der Diele. Als sie des geschäftigen Treibens rund um Gernots Pult gewahr wurde, ging es ihr vollends wieder gut. Mit einem siegesgewissen Lächeln eilte sie auf ihren Gemahl zu.
    »Welch wundervoller Morgen, mein Liebster!«, flötete sie. »Wie schade, dass du im Morgengrauen schon zu deiner Arbeit geeilt bist. Allzu gern hätte ich den ersten Imbiss des Tages mit dir gemeinsam genossen. Es gibt aufregende Neuigkeiten, die ich dir nur in trauter Zweisamkeit eröffnen möchte.«
    Aufreizend schob sie das Becken vor und schwenkte die Hüften. Ob Gernot erriet, was sie ihm sagen wollte? Gebannt verfolgte sie jede Regung auf seinem Antlitz. Sein breites, von einem auffallend rot gefärbten Bart beherrschtes Gesicht wirkte erschöpft. Die vorquellenden Augen schimmerten feucht, die viel zu platte Nase war von rotblauen Adern unterlaufen. Langsam legte er den Federkiel in die Schale, faltete die fleischigen Hände auf der Schreibplatte und sah sie müde an.
    »Deine Freude über diesen Tag kann ich leider nicht teilen. Ich habe bislang nur schlechte Nachrichten erhalten.«
    »Gräm dich nicht, mein Lieber! Umso mehr solltest du dich mit mir freuen. Lass uns ein paar Schritte über den Markt gehen. Ich wäre so gern für eine Weile mit dir allein.«
    »Sag mir lieber hier und jetzt, was dir auf der Zunge brennt. Ich kann nicht weg. Du siehst doch, was los ist.« Mit einer weit ausholenden Armbewegung zeigte er in die Diele, wo eine Handvoll Knechte unter Caspars Aufsicht damit beschäftigt war, Fässer von einem Fuhrwerk abzuladen.

Weitere Kostenlose Bücher