Gold und Stein
Auf einer Tafel markierte Caspar mit Kreidestrichen, wie viele Fässer bereits in den hinteren Teil des Hauses gerollt worden waren.
»Unser kluger Sohn hat alles im Griff. Oder willst du selbst bei den Fässern anpacken?« Sie spürte, wie ihre gute Laune dahinzuschmelzen drohte.
»Wo soll ich mit dem toten Vogel hin?« Annas krächzende Altweiberstimme schallte durch die Diele. Sofort drehten sich alle zu ihr um. Sie stand auf dem obersten Treppenabsatz und streckte mit angeekelter Miene eine Kehrschaufel weit von sich. Unverkennbar lag der Kadaver des gelbgrün gefiederten Tierchens darauf.
»Blasted old shrew!«,
entfuhr es Editha.
»Was soll das?«, brauste Gernot auf. »Willst du etwa sagen, der Vogel ist tot? Seit wann? Wie konnte das passieren?«
»Reg dich nicht auf, Liebster!«, versuchte Editha, ihn zu beruhigen.
»Weißt du, wie viel mich dieses Tier geko…?«
»Aber Vater!«, meldete Caspar sich zu Wort. »Was kann Mutter dafür? Das arme Tier wird die Hitze nicht ertragen haben. Abgesehen davon, wirst du ihr wohl kaum die Kosten eines Geschenks vorhalten wollen.« Er versuchte sich in einem Lächeln. Dankbar sah Editha ihn an.
»Wenn das kein Zeichen ist!« Gernot wirkte verstört. »Gleich beim Aufwachen war mir schon so, als erwarte uns heute kein guter Tag. Habe ich nicht recht? Erst die Nachrichten aus Wehlau, jetzt das mit dem Vogel. Dabei hat es noch nicht einmal Mittag geläutet!« Seine fleischigen Finger fuhren durch den dichten Bart. Er senkte den Blick, wippte kaum merklich auf den Fußspitzen vor und zurück.
»Welche Nachrichten aus Wehlau?«, fragte Editha, obwohl ihr der Sinn ganz und gar nicht danach stand, das genauer zu erfahren. Ihr Leib krampfte sich zusammen, die Brüste spannten. »Hat es wieder Ärger mit deinen Zunftgenossen gegeben? Haben sie dich also doch …?«
»Nein!« Zornig schlug Gernot mit der geballten Faust aufs Pult. Editha zuckte zusammen. Auch die Knechte erschraken und unterbrachen die Arbeit. Mit aufgerissenen Mündern, die Fässer wahllos irgendwo abgestellt, sahen sie zu ihren Herrschaften herüber. Vergebens machte Caspar ihnen Zeichen, zurück an die Arbeit zu gehen.
»Du kannst dich beruhigen«, setzte Gernot leise nach. »Meine verehrten Zunftgenossen trifft keine Schuld. Dabei wünschte ich mir gerade nichts sehnlicher als das. So müsste ich mir wenigstens nicht selbst die größten Vorwürfe machen. Wohl oder übel muss ich ihnen zugestehen, dass mein Abenteuer mit dem Wehlauer Kaufmann ein großer Fehler gewesen ist.«
»Good grief!«
Editha schlug sich die Hand vor den Mund.
»Verkneif dir dein vermaledeites Englisch!« Ein weiteres Mal sauste Gernots Faust krachend auf das Pult.
»Vater!«, wies Caspar ihn ungehörig scharf zurecht. Bleich standen die Fischartmänner einander gegenüber. Wieder wurde es gefährlich still in der Diele. Als Erste löste sich Anna aus der Starre. Bedächtig schritt sie die Treppe hinab, die Schaufel weiterhin angeekelt nach vorn gestreckt. »Was ist jetzt mit dem Vogel?«
»Scher dich zum Teufel mit dem elenden Vieh!« Das Gesicht gefährlich rot angelaufen, bebte Gernots schwerer Leib ob des Ausbruchs. Verständnislos schüttelte Anna den Kopf und schlurfte zum Hof. Als sich die Tür hinter ihr schloss, atmete Editha auf.
»Zurück an die Arbeit!«, scheuchte Caspar die Knechte auf. In wenigen Schritten stand er wieder an seinem alten Platz, griff sich die Tafel und begann von neuem, die abgeladenen Fässer zu notieren. Auch die Knechte setzten ihre Tätigkeit fort.
»Tut mir leid.« Editha verzichtete darauf, ihrem Gemahl zu erklären, worauf sich ihre Entschuldigung bezog. »Vielleicht sollte ich dir doch erst einmal meine Neuigkeit verraten. Gewiss wirst du danach die Vorgänge im Kontor mit mehr Gleichmut betrachten.«
»Du bist gut! Gerade habe ich in Wehlau ein halbes Vermögen verloren.«
»Was?« Wie vorhin in der Wohnstube überfiel sie Taumel. Hilfesuchend tastete sie nach hinten, fasste jedoch ins Leere. Flink sprang Caspar herbei und hielt sie fest.
Gernot bemerkte nichts davon und redete unerbittlich weiter: »Euch Frauen mag es einerlei sein, woher wir Männer das Geld nehmen, um euch die wertvollsten Geschenke, die ausgefallensten Kleider und das kostbarste Geschmeide zu bezahlen. Nach einer Weile langweilt es euch ohnehin. Kippt der sündhaft teure Singvogel von der Stange, lasst ihr ihn einfach von der Magd zum Unrat werfen. Doch so, wie es aussieht, ist es damit ein für alle Mal
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