Gold und Stein
Theres legte die Winde abermals beiseite, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Agnes. »Du bist erst zarte siebzehn, mehr als ansehnlich obendrein. Täusche ich mich, oder ist Laurenz weniger dem Wunsch deiner Mutter als deinem nachgekommen, als er dich hierhergebracht hat?«
Agnes meinte, vor Scham im Erdboden versinken zu müssen. Ihr Antlitz glühte. Hilflos fingerte sie am Halstuch herum.
»Was ändert das?«, schaltete sich Marie ein. »Mach dir keine Gedanken, Agnes. Bei uns bist du in Sicherheit.«
»Das will ich meinen.« Plötzlich stand Agatha in der Tür. Die Mägde zuckten zusammen. »Was ist? Habt ihr ein schlechtes Gewissen, weil ich euch beim Schwatzen ertappe? Geschieht euch recht! Wir leben nicht vom Reden, sondern vom Bortenweben. Los, an die Arbeit, ihr zwei! Wie sollen sonst all die Aufträge pünktlich fertig werden?«
Auffordernd klatschte sie in die Hände. Marie und Theres beeilten sich, die Fäden aufzuspannen. Bald flogen ihre Finger wieder flink hin und her, ein leises zweistimmiges Summen lieferte den Rhythmus dazu. Die Muhme nickte zufrieden und trat an den Tisch. Sorgfältig prüfte sie die beiden Borten mit der aufwendigen Stickerei, musterte den Verlauf der Fäden und besah sich auch die Rückseite genau. Schließlich legte sie die Stücke zur Seite.
»Die sind euch gut gelungen! Felbert wird sehr zufrieden sein«, lobte sie. »Gewiss schafft ihr es, bald auch unsere liebe Agnes in die tieferen Geheimnisse des Handwerks einzuweisen. So, wie es aussieht, wird sie den Winter über bei uns bleiben. Oder magst du das nicht lernen?«
»Doch, doch«, versicherte Agnes.
»Das freut mich zu hören. Zunächst aber habe ich eine andere Aufgabe für dich. Was hältst du davon, einen kleinen Botengang zu übernehmen? Du kannst die Borten zu Felbert bringen. Es wird Zeit, dass du einmal außer Haus kommst. Oder fürchtest du dich draußen?«
»Wie soll ich sein Haus finden?«
»Keine Sorge! Ich habe schon dafür gesorgt, dass du uns nicht verlorengehst. Ein Knecht aus der Altstadt wird dich ein Stück begleiten. Er wartet nebenan. Komm mit! Theres und Marie werden ihr Garn auch ohne dich aufwickeln können.«
»Schade!«, bedauerte Theres. Marie fiel eifrig ein: »Lasst Agnes bei uns, liebe Meisterin! Sie ist dabei, viel zu lernen.«
»Vor allem die frechen Lieder, die ihr zu singen pflegt«, stellte Agatha lachend fest. »Ich möchte gar nicht wissen, was ihr der Kleinen sonst noch alles beibringen wollt. Vergesst nicht: Sie ist erst siebzehn. Ihr beide aber seid längst schon über zwanzig und habt ihr einiges an Erfahrungen voraus.«
Sie fasste Agnes an der Hand, griff sich die beiden Borten für Felbert und ging in die kühle Diele voran, wo bereits ein fremder Knecht wartete. Breitbeinig, die behaarten Arme vor der Brust verschränkt, stand er neben einem Fass und sah starr auf die Gasse. Durch die weit offen stehende Haustür entdeckte Agnes einen Karren, auf dem sich bereits mehrere Fässer befanden. Ein Junge von höchstens sechs Jahren lehnte daran, als wollte er sie bewachen. Der Knecht machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, woraufhin der Junge blitzschnell im Gewühl verschwand.
»Hier ist meine Nichte«, erklärte Agatha und schob Agnes in die Mitte der Diele. Langsam drehte der Knecht den Kopf, schenkte Agnes einen gelangweilten Blick aus seinen dunklen Augen. Die Muhme stellte sie überall als ihre Verwandte vor, um sich leidige Erklärungen zu sparen. »Ich bin dir dankbar, wenn du sie zum Goldenen Hasen mitnimmst. Meister Jörgen soll ihr den Weg zu Kaufmann Felbert im Kneiphof erklären.«
Der Knecht antwortete mit einem unwirschen Brummen. Sein Gesicht mit dem zotteligen Bart verfinsterte sich.
»Du, liebe Agnes, wirst Meister Jörgen fragen, ob er nicht gelegentlich noch ein weiteres Fass Bier von mir haben will. Stell dir vor, ein Wunder ist geschehen! Dank dem guten Mohr spricht es sich herum, dass ich seit einiger Zeit fachkundige Hilfe beim Brauen habe. Der Bierbeschauer erzählt überall, mein Bier sei neuerdings sehr bekömmlich. Schon fragt mich eben Meister Jörgens Knecht nach einem Fass. Sollte es dem Krüger schmecken, werde ich beim Rat anfragen, ob ich für ihn brauen darf. Mohr wird meine Bitte unterstützen. Doch zunächst muss ich wissen, ob ich es wirklich loswerde. Vom Goldenen Hasen am Altstädter Markt ist es nicht weit in den Kneiphof. Lass dir den Weg zum Haus von Kaufmann Felbert erklären und gib dort die Borten ab.
Weitere Kostenlose Bücher