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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Tief hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt, wie er den Kopf auf dem wulstigen Nacken zu halten und den schon in jungen Jahren üppigen Leib auf den dünnen Beinen zu balancieren pflegte. Sein Hals war noch kürzer geworden. Das dunkelblonde Haar verdeckte ihn nahezu vollständig, wie auch das Feuermal gänzlich in den Falten unter den Haaren verschwand. Tränen traten Gunda in die Augen. Hastig wischte sie sie fort.
    Selbst aus diesem Blickwinkel war zu erkennen, wie verblüffend ähnlich Caspar seinem Vater sah. Sie schluckte, gedachte des schmerzvollen, kurzen Wiedersehens letzte Woche. Zu einem ausgewachsenen jungen Mann war ihr kleiner Junge herangereift, ohne dass sie ihn dabei auch nur ein winziges Stück des Weges hatte begleiten dürfen. Kein Wunder, dass er nur Befremden für sie aufbrachte, in Editha aber seine Mutter sah. Schuld daran trug allein Gernot. Wie lang schon verzehrte sie sich danach, es ihm offen ins Gesicht zu schleudern! Nun war es endlich so weit. Entschlossen biss sie sich auf die Lippen, spürte ein Kribbeln im Bauch.
    Gernot ahnte nicht, was ihm bevorstand. Gelegentlich wippte er auf die Fußspitzen vor, glitt in einer geschmeidigen Bewegung auf die Fußsohlen zurück. Im Vergleich zu anderen Männern wirkte er nicht sonderlich groß. Dafür aber wusste er sich durch seine Haltung Achtung zu verschaffen. Sein dunkelgrüner Rock war nicht nur von taillenbetontem, elegantem Schnitt, sondern auch aus bestem Stoff gefertigt. Ebenso saßen die rot-grün gestreiften Strumpfhosen tadellos an den dünnen Beinen. Die Geschäfte mit dem litauischen Eibenholz schienen ihm trotz Rehbinders düsteren Voraussagen nicht schlecht bekommen zu sein.
    Der Priester hob zum letzten Gebet an, die Gläubigen stimmten feierlich ein. Gundas Unruhe wuchs. Nur noch wenige Augenblicke! Fahrig knetete sie die eiskalten Finger, spitzte den Mund, hörte kaum den Schlusssegen. Die ersten Gottesdienstbesucher wandten sich bereits ab, um die Kirche zu verlassen. Auf dem Vorplatz von Sankt Johannis an der Ostseite des Memeler Marktplatzes versammelten sie sich. Der sonntägliche Messbesuch bot eine gute Gelegenheit, wichtige Gespräche in unverfänglichem Rahmen zu führen. Gunda schickte ein Dankgebet gen Himmel, dass ihr bei ihrer Ankunft in Memel die Idee gekommen war, Gernot bei dieser Gelegenheit anzusprechen. Aufmerksam behielt sie ihn im Auge. Sie musste ihn erreichen, ehe ihr jemand zuvorkam. Nur noch wenige Schritte trennten sie von ihm.
    »Welch Überraschung: Gernot Fischart!« Ihre Stimme bebte kaum merklich. Tief sog sie die Luft ein und wartete gespannt, bis er sich umdrehte.
    Viel zu langsam tat er es.
    Für einen Moment raubte ihr der Blick in sein Antlitz die Sinne. Schlagartig wusste sie, warum Zacharias Fröbel ihr geraten hatte, sie solle mit ihrer Rache unbedingt so lange warten, bis sie wirklich sicher war, bei der Begegnung mit Gernot keine weichen Knie mehr zu bekommen. Jetzt war es zu spät. Sie hatte eindeutig nicht lang genug gewartet. Die letzten siebzehn Jahre und all das seither erlebte Leid waren wie ausgelöscht. Zwar waren Gernots Wangen voller, die Tränensäcke dicker und die Falten um die Augen reichlicher geworden, dennoch brachte schon das geringste Zucken um seine Mundwinkel ihr Herz zum Rasen. Sofort hatte sie wieder sein vertrautes Lachen und die wohltönende Stimme im Ohr, mit der er Verse wie »Wem nie durch Liebe Leid geschah« oder »Der mit Glücke traurig ist« so gefühlvoll vorzutragen verstand wie kein anderer. Wie sehnte sie sich nach jenen trauten Abenden in ihrem Dortmunder Elternhaus, an denen Gernot für sie allein jene Worte mit Leben füllte. Die Herzen überquellend von den frisch gekosteten Wonnen der ersten Liebe, die Köpfe prall gefüllt mit süßen Plänen von einer gemeinsamen, unbeschwerten Zukunft am Pregel, hatten sie damals nicht im Traum daran gedacht, dass auch für sie beide Liebesglück und Liebesleid derart erdrückend nah beieinanderlagen wie in jenen Zeilen. Sie seufzte leise, zwang sich in die Wirklichkeit zurück.
    Gernot zog die Augenbrauen hoch und rieb sich das Kinn. Erkannte er sie etwa gar nicht wieder? Ungläubig starrte sie ihn an. Erst jetzt fielen ihr die sorgenvollen Furchen um seine Mundwinkel auf. Der rotgefärbte Bart vermochte sie schwerlich zu überdecken. Ebenso gewahrte sie die Falten um die Augen, den müden Blick, mit dem er sie bedachte. Vor ihr stand nicht mehr der ungestüme Jüngling, für den sie einst entflammt war,

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