Gold und Stein
war, als wusste auch der Vogel gleich, wen er vor sich hatte. Freudig ruckte er mit dem Kopf, spreizte einen Flügel, hob eine Kralle und streckte sie zur Seite aus. »Grüß dich, grüß dich!«, wiederholte er immer flüssiger. Mit einem Satz plumpste er von der Stange auf den Boden des Vogelbauers und begann, Körner aufzupicken. Vorsichtig stellte Ulrich den Käfig auf einem Schemel ab, den Griet nahe ans Bett gerückt hatte.
»Es ist ein Geschenk«, verriet Lore schmunzelnd. Ulrich und Griet wechselten vergnügte Blicke. »Ein außergewöhnlich großzügiges noch dazu. Du weißt, was es bedeutet, wenn ein Herr einer Dame einen so kostbaren Vogel schenkt? Wahrscheinlich kannst du dir längst denken, wer dir damit seine Aufwartung machen will.«
»Was?« Ungläubig starrte Agnes die Großmutter an. Sie wagte nicht, den Namen auszusprechen. Jede Regung auf Lores Gesicht schien ihr entgegenzuschreien, was sie nicht zu hoffen wagte: Laurenz Selege schickte ihr den Vogel! Ihr wurde heiß. Natürlich wusste sie, was ein solch wertvolles Geschenk bedeutete. Aufgeregt knetete sie die Finger.
»Griet, Ulrich, ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ihr unten nach dem Rechten seht. Nicht, dass die Gäste denken, sie dürften sich selbst bedienen. Die Suppe ist fertig, Kannen mit frischem Bier stehen bereit.«
Als gelte es, neugierige Hühner aus dem Raum zu verjagen, scheuchte Lore die beiden zur Tür hinaus. Zufällig stieß Griet beim Hinausgehen gegen Ulrich. Sogleich tasteten ihre Finger nacheinander, verschränkten sich für einen Augenblick. Da fiel es Agnes wie Schuppen von den Augen: Ulrich war Griets Liebster! Wie hatte sie nur das Nächstliegende übersehen können? Oder rührte es daher, dass sie dem einäugigen Brauknecht nicht zutraute, eine so hübsche Frau wie Griet für sich zu gewinnen?
»Ein schönes Paar!« Lore sah den beiden verzückt hinterher. »Was freue ich mich für sie! Jetzt müssen wir nur noch deine Mutter behutsam darauf einstimmen, dann steht der lang ersehnten Heirat nichts mehr im Weg.«
»Was sollte sie dagegen haben? Sie drängt Griet doch immerzu, endlich zu heiraten und einen eigenen Hausstand zu gründen.«
»Ach, das ist ein weites Feld, Liebes.« Lore trat zum offenen Fenster und sah neugierig in den Hof hinunter.
Das Sonnenlicht zauberte einen hellen Lichtschein um ihren Kopf. Sie drehte ihn halb beiseite. Agnes betrachtete das Profil mit der auffällig gekrümmten Nase. Jäh kam ihr die rätselhafte Traumgestalt wieder in den Sinn. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Lore war kaum zu übersehen. Was bedeutete das? Hatte Laurenz tatsächlich die Wahrheit gesagt, und sie hatte einen Zwillingsbruder? Sogleich rief sie sich das Gespräch mit Lore in Erinnerung. Entschieden hatte Lore die Frage zurückgewiesen. Wahrscheinlich hatte sie nur von dem fremden Burschen mit dem Feuermal im Nacken geträumt, weil Laurenz ihr von jenen Zwillingen erzählt hatte. Warum sollte sie einen Bruder haben, über den niemand sprach? Warum sollten Lore und Gunda ihr einen so wichtigen Menschen verschweigen? Alles in ihr wehrte sich dagegen, sich vorzustellen, die Großmutter und ihre Mutter würden sie seit Jahren belügen.
»Lass uns lieber von dir sprechen, Liebes.« Entschlossen drehte Lore sich um, strahlte über das ganze Gesicht. Nicht die geringste Spur von Falsch lag darin. Es bestand auch keine Ähnlichkeit mehr mit jenem Burschen aus dem Traum. Beruhigt lehnte Agnes sich ins Kissen zurück.
»Dieser Papagei ist ein außergewöhnliches Geschenk. Damit legt dir jemand sein Herz zu Füßen.«
»Was sagt Mutter dazu?«
»Lass Gunda nur meine Sorge sein. Sie ist meine Tochter, ich weiß, wie ich sie nehmen muss, um sie in meinem Sinn zu überzeugen.« Sie zwinkerte verschwörerisch, stellte sich vor den Vogelkäfig und betrachtete das Tier. Neugierig hüpfte der Papagei zu ihr, krächzte wieder sein »Grüß dich, grüß dich«. Lore streckte den Finger in den Käfig. Sofort schnappte der Vogel danach. »Autsch!« Kopfschüttelnd zog Lore den Finger zurück.
»Sonderlich zahm ist er nicht«, stellte Agnes fest. »Er braucht wohl eine Weile, bis er sich an uns gewöhnt hat.«
»Wir alle brauchen eine Weile, um uns an neue Menschen und Umgebungen zu gewöhnen«, stimmte die Großmutter zu. »Deshalb soll ich dir auch eine zutiefst aufrichtige Entschuldigung ausrichten.«
Sie strich Agnes über den Kopf und kniff sie anschließend zart in die Wange. Agnes wollte sich wegdrehen, hatte aber
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