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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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des Karrens schlossen.
    »Kollmann bekommt seit Jahren das Bier aus dem Silbernen Hirschen«, antwortete Ulrich. »Seit ich bei Zacharias Fröbel Knecht bin, ist das schon so. Die beiden Männer haben wohl eine Abmachung, die über den Tod des einen hinausreicht. Da fällt mir ein: Weißt du eigentlich, wie man einen toten Mann bei uns im Samland ordentlich begräbt?«
    »Wie?« Froh, ihm das Stichwort für eine seiner launigen Erzählungen geliefert zu haben, schaute sie ihn an. Der Narbenwulst auf seiner linken Gesichtshälfte war von der Sonne stark gerötet und verlieh ihm ein vierschrötiges Aussehen. Sommersprossen überzogen den platten Nasenrücken und die rechte Gesichtsseite. Mit dem gesunden Auge zwinkerte er ihr zu.
    »Man gibt ihm ein Schwert und eine Handvoll Münzen mit ins Grab. Ersteres dient dazu, sich die lästigen Deutschordensritter vom Hals zu halten, die seit dem letzten Jahr wie freigelassenes Vieh aus ihren Burgen flüchten, und Letztere braucht er, um sich danach im Wirtshaus zur Stärkung eine Kanne frischen Bieres zu gönnen.«
    Sein Lachen war ansteckend. Sogleich fühlte Ulrich sich zu einer weiteren Geschichte ermutigt. »Du darfst aber nicht denken, die Ordensritter wären nur feiges Gesindel. Unter ihnen finden sich immer auch lustige und kluge Burschen. Erst wenige Jahre ist es her, da sind zwei von ihnen durchs ganze Ordensland gezogen und haben allerorten vom Bier gekostet. So, wie es ihnen geschmeckt hat, so haben sie es genannt. Seither heißt etwa das Bier aus Danzig ›Wehre dich‹, das aus den Königsberger Städten ›Saure Maid‹, das aus Graudenz ›Kranker Heinrich‹ und das aus Frauenburg ›Singe wohl‹.«
    »Und wie haben sie unseres aus Wehlau genannt?«
    »Bis zu uns sind sie wohl doch nicht gekommen.« Ulrich zwinkerte abermals. »Wahrscheinlich sind sie im nassen Sumpf um die Allemündung stecken geblieben. Dem Bier aus dem Silbernen Hirschen eilt ohnehin der beste Ruf voraus. Ich bin mir sicher, es wäre ihnen schwergefallen, die passenden Worte zu finden.«
    »Schade.« Agnes lächelte. »Woher hast du eigentlich all diese wunderlichen Geschichten?«
    »Der alte Fröbel hat sie mir erzählt.«
    »Das hätte ich mir denken können.« Wehmut überfiel sie. Wie oft hatte sie auf Fröbels Knien gesessen und den Erzählungen ihres Stiefvaters gelauscht. Über seinen Worten war ihr das riesige Ordensland vertraut geworden, hatte sie mehr und mehr begriffen, was die Besonderheit des Landstrichs und seiner so unterschiedlichen Bewohner ausmachte. Nicht nur damit hatte er sie gelehrt, die Gegend aus tiefster Seele zu lieben. Sie ließ den Blick schweifen.
    Weit erstreckte sich das Wehlauer Gemeindeland. Im Südosten schälten sich die Wipfel und Dächer der Lischke Bürgersdorf heraus, im Südwesten ahnte man den von Bäumen gesäumten Lauf der Alle, die aus Richtung Polen dem Pregel zufloss. Überall auf dem hügeligen Weideland tanzten die fleißigen Erntehelfer als helle Punkte munter auf und ab. Weitaus gemächlicher als die Menschen bewegten sich die braunen Ochsen vor den hochbeladenen Fuhrwerken. Ein leichter Ostwind strich über die goldgelben Ähren. Es duftete nach frisch gemähtem Heu und sandiger Erde. Mücken schwirrten umher, Grillen zirpten. Auf einem abgestorbenen Baum thronte eine Saatkrähe und schickte ihr heiseres »kroah, kroah« in die Ferne. Irgendwo antwortete eine zweite Krähe. Tiefblau wölbte sich der Himmel über die Wiesen. Weiße Wolkengebirge schoben sich zusammen. Agnes erinnerte sich an längst vergangene Sommer, in denen sie an der Hand des alten Fröbel über die Felder gewandert war. Wie gern hatte er ihr von den Gestalten erzählt, die oben in den Wolken wohnten. Auch in den knorrigen Eichen am Wegesrand, in den eigenartigen Steinen an den Straßengabelungen und selbst in den winzigen Ameisenstraßen zu ihren Füßen hatte Fröbel Spuren fremder Wesen entdeckt, die ihm stets neue Geschichten zuflüsterten. Auf die Worte von Laurenz Selege über die Zwillinge mit dem Feuermal hätte er anders als Gunda nicht mit Leugnen, sondern mit einer noch besseren Geschichte reagiert.
    Hastig wandte sich Agnes wieder an Ulrich. »Du bist doch schon lange vor meiner Mutter im Silbernen Hirschen gewesen. Kannst du dich noch erinnern, wie es war, als Gunda mit mir und meiner Großmutter nach Wehlau gekommen ist?«
    »Das ist sehr lange her. Damals war ich kaum vierzehn. Warum willst du das wissen?« Er tat, als erforderte das Schieben des Karrens

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