Gold und Stein
plötzlich seine gesamte Aufmerksamkeit. Kurz schwenkte er nach links, um einer Vertiefung auszuweichen, dann wieder nach rechts, weil ein dicker Stein im Weg lag. Das hatte den Vorteil, nicht weiterreden zu müssen.
»Erzähl mir davon, bitte! Du musst dich doch daran erinnern, wenn du auch noch all die anderen alten Geschichten zu erzählen weißt.«
»Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit, Agnes, da kann man viel vergessen.« Von neuem wandte er sich ab, um den Karren über eine kaum sichtbare Unebenheit zu lenken.
»Warum willst du nicht darüber reden?«
Rasch fasste sie nach den rumpelnden Bierfässern. Das rechte Rad war in ein Loch geraten und steckte fest. Der ganze Karren neigte sich gefährlich zur Seite. Ulrich biss die Lippen zusammen, ging in die Knie und schob den Karren mit einem energischen Stoß an. Erleichtert, dass alles gutgegangen war, wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und schob weiter.
»Hatte Gunda damals noch ein zweites Kind dabei? Einen Jungen vielleicht?« Agnes warf Ulrich einen vorsichtigen Blick zu. Sein Gesicht war verschlossen. Schweiß rann ihm von der Stirn über die Schläfen. Das gesunde rechte Auge war starr nach vorn gerichtet.
Die einzelnen Bäume um Bürgersdorf herum schälten sich allmählich aus dem flirrenden Sonnenlicht heraus, auch die Umrisse der verschiedenen Gehöfte wurden erkennbar. Bald erreichten sie die Lischke. Viel Zeit blieb nicht mehr, Ulrich zu befragen.
»Bitte sag mir die Wahrheit«, flehte sie den stämmigen Brauknecht an. »Ich schwöre dir, weder mit Gunda noch mit Lore darüber zu reden.«
»Was soll diese Fragerei nach einem zweiten Kind?«, knurrte Ulrich leise. Als sie ihn fragend musterte, hielt er den Blick des rechten Auges stur geradeaus, kaute auf seinen Lippen. Die Hitze hatte sie spröde werden lassen. Mehrmals fuhr er mit der Zunge darüber. »Gunda hatte nur dich, und dabei ist es leider auch geblieben. Da konnte Fröbel sich noch so sehr einen Sohn wünschen, es war ihm einfach nicht beschieden. Seltsam, nicht wahr? So ein herzensguter Mensch und trotzdem ohne eigene Kinder.«
»Du bist für ihn wie ein Sohn gewesen«, warf Agnes ein.
»Stimmt«, begann er zögernd, um sofort wieder zu verstummen. Es galt, den schweren Karren geschickt nach links zu schwenken, um die Abzweigung nach Bürgersdorf einzuschlagen. Ein mannshoher Bildstock barg im Tabernakel ein schlichtes Kreuz. Davor lag ein Strauß verdorrter blauer Blumen. Ulrich schenkte dem keine Beachtung, Agnes aber schlug im Vorbeigehen hastig das Kreuzzeichen.
»Fröbel ist wie ein Vater zu mir gewesen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Ich war zehn, als ich zu ihm kam. An meine Eltern kann ich mich kaum erinnern. Ich weiß nur, dass ich das hier meinem richtigen Vater zu verdanken habe.« Mit dem Zeigefinger wies er auf die entstellende Narbe, die ihm statt des linken Auges geblieben war und die sich blutunterlaufen die gesamte Wange bis zum Kinn hinabzog. »Am selben Abend, an dem er auf mich losgegangen ist, hat er auch meine Mutter verprügelt. Die Schreie gellen mir manchmal noch nachts in den Ohren. Das ist das Letzte, was ich von meiner Familie weiß. Eine alte Nachbarin hat sich um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass mir jemand das Gesicht geflickt hat. Kurz darauf hat sie mich zu Zacharias Fröbel in den Silbernen Hirschen gebracht. Seither geht es mir gut.«
Er holte Luft, schürzte die Lippen. Agnes berührte scheu seinen sehnigen Arm, meinte, ein verräterisches Zucken in den Mundwinkeln zu erspähen. Ein Mückenschwarm, zu einer sirrenden schwarzen Säule geformt, flog nah an ihnen vorbei. Sie zog die Hand zurück, um sie zu verjagen.
»Fröbel hatte also keine Frau und keine Kinder, als du zu ihm gekommen ist?«, hakte sie nach. »Aber er wird damals den Silbernen Hirschen wohl kaum allein bewirtschaftet haben. Wer ist damals noch da gewesen, um ihm in der Schankstube und im Sudhaus zur Hand zu gehen?«
»Du willst wissen, wen du noch ausfragen kannst, um mehr über eure Ankunft zu erfahren, nicht wahr? Lass es gut sein, Agnes, die leben alle nicht mehr.«
14
D ie Sonne stand inzwischen im Zenit, brannte gnadenlos auf die ärmlichen Behausungen und die wenigen größeren Gehöfte. Bürgersdorf war eine kleine, von einem Anger in die Länge gezogene Lischke, in der vor allem Ackerbürger lebten, für die Wehlau vor bald mehr als zwei Generationen zu eng geworden war. Die meisten Bewohner waren mit der Heuernte auf den umliegenden
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