Gold und Stein
nichts und niemandem etwas befürchten zu müssen? Hatte sie etwa all die Jahre umsonst in der schlimmen Furcht gelebt, die Erinnerung an das dunkelhaarige Gespenst der anderen nicht aus seinem Kopf tilgen zu können? Bei der kleinsten Unachtsamkeit die Geschwätzigkeit der Hundskötterin herauszufordern, die sie beide ein für alle Mal vernichten würde? Lag es nicht auf der Hand, dass dieser geheimnisumwitterte Kaufmann in Wehlau irgendetwas mit Gernots Vergangenheit zu tun hatte, die leider nicht immer so makellos gewesen war, wie er das offenbar selbst glauben mochte?
»Du willst doch nicht allen Ernstes ausgerechnet mir gegenüber behaupten, nie im Leben etwas Unrechtes getan zu haben?«, rief sie unerwartet schrill aus. »Zwingst du mich, dir jene Nacht im Mai vor siebzehn Jahren in Erinnerung zu rufen? Deinen Streit mit dem wackeren Kelletat, der sich dir mutig entgegengestellt und diesen Mut mit dem Leben bezahlt hat? Glaubst du, Gunda hätte das alles im Lauf der Jahre vergessen und nie an Rache gedacht? Du hast ihr den Sohn gestohlen und den Ehemann getötet!«
»Bist du des Wahnsinns? Willst du etwa behaupten, hinter dem unbekannten Kaufmann aus Wehlau würde Gunda stecken? Nie und nimmer wäre sie zu so etwas fähig! Sie ist die ehrbarste Frau, die mir je …«
Sein plötzlich aufflammender Zorn hinderte ihn daran, den Satz zu Ende zu sprechen. Grob packte er Editha an den Armen und schüttelte sie heftig. Wirr standen ihm die Haare zu Berge. In seinen Augen blitzte es gefährlich. Plötzlich wusste Editha sehr genau, wie es damals so weit hatte kommen können, dass er dem armen Kelletat den entscheidenden Stoß versetzt hatte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Im selben Moment ließ er sie los, sackte reumütig in sich zusammen und rieb sich das bärtige Kinn.
»Verzeih«, murmelte er leise. »Bitte verzeih mir, Liebes. Ich weiß nicht, was da gerade in mich gefahren ist. Natürlich hast du recht, natürlich habe ich damals ein schreckliches Unrecht begangen. Du weißt, wie wild entschlossen ich war, es wiedergutzumachen. Du und die Hundskötterin aber habt mich gezwungen, es nicht zu tun. Tagelang habt ihr auf mich eingeredet, bis ich am Ende nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand, was richtig und was falsch war. Als Gunda dann spurlos mit dem Mädchen aus der Stadt verschwunden war, war es längst zu spät. Da hätte es niemandem mehr genutzt, die Wahrheit zu sagen. Damit hätte ich außerdem dich und Caspar mit ins Verderben gerissen.«
Er hielt inne, schöpfte schwer nach Luft und rieb sich das bärtige Kinn. »Doch glaube nicht«, fuhr er leise fort, »ich könnte mir je verzeihen, was ich damals getan habe, was ich der armen Gunda angetan habe. Meine einzige Möglichkeit, mit der schweren Schuld zu leben, ist, alles, was in meiner Macht steht, für Caspar und für dich zu tun.«
Er trat wieder zum Fenster. Wie er da so stand, versunken in die schrecklichen Bilder der Vergangenheit, dauerte er sie. Ihn leiden zu sehen, hatte sie nicht gewollt. Immer nur wollte sie ihn glücklich machen und ihm helfen, das Geschehene ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Deshalb liebte sie auch Caspar so abgöttisch und sehnte sich nichts mehr herbei als viele weitere, eigene Kinder mit Gernot.
Langsam drehte er sich zu ihr um, betrachtete sie versonnen. »Das alles hat nichts, aber auch rein gar nichts mit meiner Redlichkeit als Kaufmann zu tun. Geschweige denn, dass es irgendeinen Grund gibt zu befürchten, es gäbe Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Fremden in Wehlau. Für ihn legt Rehbinder seine Hand ins Feuer. Ich vertraue ihm.«
»Das ehrt dich«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Ich hoffe für dich, dass dein Vertrauen niemals enttäuscht werden wird.«
21
F ast hatte Agnes die Hoffnung aufgegeben, Laurenz Selege jemals wiederzufinden. Seit einer Woche wurde eifrig an den Schanzen vor den Mauern der Stadt gebaut. Längst erhob sich in Wehlaus Osten und Süden ein beeindruckender Befestigungsring. Seine Fertigstellung würde nur noch wenige Tage in Anspruch nehmen. Alle hofften, Reuß von Plauen und seine Mannen taten ihnen den Gefallen, nicht vorher schon am Horizont aufzutauchen.
Unter dem Vorwand, frisches Bier oder einen Imbiss zu den Männern zu bringen, gelang es Agnes immer wieder, den Silbernen Hirschen unbehelligt von den Fragen der Mutter zu verlassen. Zielsicher ging sie die einzelnen Baustellen Tag für Tag ab. Ein Baumeister mit Laurenz’ Fähigkeiten wurde
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