Gold und Stein
dort in jedem Winkel gebraucht. Binnen kürzester Zeit musste eine wirkungsvolle Verteidigungsanlage entstehen. Inständig hoffte Agnes, wenn schon nicht Laurenz selbst, so doch zumindest jemanden zu finden, der ihr mehr über seinen Verbleib verraten konnte. Bislang jedoch hatte sie keinerlei Erfolg gehabt. Weder konnte ihr jemand Auskunft geben, ob er am Schanzenbau beteiligt war, noch wusste jemand zu sagen, ob er überhaupt noch in der Stadt weilte.
Verzweiflung erfasste sie. Die kostbare Zeit verrann. Trotzig streckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Längst war die mittägliche Glut einer milderen Strahlung gewichen. Die Farben des von der langen Trockenzeit zunehmend ausgedorrten Landes wechselten vom gleißenden Weiß ins matte Gelb, das Licht wurde milchiger. Ein lauer Wind strich über das Land. Es roch nach trockener Erde und Heu. Wie so oft im Sommer erschien ihr der Duft süß, gleichsam als Vorbote der Zeit, da überall an den Bäumen verlockendes Obst heranreifte. Ungeachtet des Lärms beim Aufschütten der Wälle herrschte eine eigentümliche Stille. Kaum schwirrten Mücken umher, auch die Vögel waren verstummt. Sämtliches Getier hatte sich bis zum Anbruch der kühleren Nacht in seine Schlupfwinkel verkrochen. Allmählich verklang sogar das Hämmern an den Baustellen. Zur Verwunderung der Baumeister begannen die Knechte, ihre Werkzeuge zusammenzupacken.
»He, was tut ihr da?«, rief ein rothaariger Mann empört. »Bis Sonnenuntergang wird weitergebaut. Die Ordensritter warten gewiss nicht brav mit ihrem Angriff, bis die Schanzen endlich stehen. Es gilt, jede Stunde zu nutzen.«
Murrend bückten sich einige, um ihre Äxte wieder aufzunehmen. Ein junger Bursche mit nacktem Oberkörper gab ihnen jedoch ein Zeichen zu warten. Breitbeinig baute er sich vor dem Rothaarigen auf und sah ihn herausfordernd an. Als er die Arme vor der Brust verschränkte, war das Muskelspiel unter der Haut deutlich zu sehen. Gebannt starrte Agnes ihn an.
»Regt Euch nicht auf, Meister!«, rief er mit fester, dunkler Stimme. Seine hellen Augen blitzten mutig. »Es hat keinen Sinn, uns bis zum Umfallen schuften zu lassen. Seit einer Woche rackern wir uns von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ab. Allmählich schwinden selbst den Besten unter uns die Kräfte. Wir sollten die Nachtstunden nutzen, um wieder auf die Beine zu kommen. Morgen wartet genug schwere Arbeit auf uns.«
»Was fällt dir ein? Zurück an die Arbeit! Ich habe nicht mitbekommen, dass die anderen dich gebeten haben, für sie zu sprechen.« Drohend schwang der Rothaarige einen Stock in der Hand.
Der Arbeiter beobachtete das belustigt und machte sogar noch einen Schritt auf ihn zu, als wollte er ihn zum Zuschlagen ermutigen. »Das werden sie schon selbst entscheiden.«
Daraufhin holte der Rothaarige mit dem Knüppel aus.
»Halte ein!« Wie aus dem Nichts tauchte ein schwarzbärtiger Mann hinter ihm auf und hielt seinen hoch erhobenen Arm fest. Agnes erstarrte. Bereits an der Stimme hatte sie Laurenz erkannt. Ihr Herz klopfte heftig. Wo war er hergekommen? Wie schaffte er es, stets im richtigen Moment zur Stelle zu sein und seinen Mut zu beweisen?
»Hol dich der Teufel, Selege!«, zischte unterdessen der Rothaarige, entriss sich Laurenz durch eine ruckartige Bewegung und ließ die Hand mit dem Stock sinken.
»Den Gefallen werde ich dir nicht tun, Leibold«, erwiderte Laurenz gelassen und sah sich in der Menge um. In der Zwischenzeit waren mehr als ein Dutzend Knechte und Baumeister zusammengekommen und hatten sich im Halbkreis um sie aufgestellt. Zustimmend nickten sie. Agnes sah sich die Männer an. Sie war das einzige weibliche Wesen weit und breit. Unwillkürlich glitten ihre Finger zu dem Halstuch, spielten nachdenklich damit. Bislang schien sie keinem aufzufallen. Also verhielt sie sich ruhig und hoffte, eine Gelegenheit zu finden, allein mit Laurenz zu sprechen.
»Der Mann hat recht«, erklärte Laurenz unterdessen seinem Zunftgenossen. »Die Leute brauchen die Nacht dringend, um sich von der schweren Arbeit zu erholen. Die Hitze ist mörderisch. Es ist ein Wunder, dass sie unter diesen Bedingungen überhaupt so weit mit den Schanzen gekommen sind.«
»Was willst du eigentlich, Selege?« Der Rothaarige stützte sich auf den Stock und tat, als hätte er Laurenz’ Worte gar nicht gehört. »Täusche ich mich, oder warst du einige Wochen von hier verschwunden? Jetzt tauchst du auf einmal wie aus dem Nichts auf und mischst dich ein, ohne zu wissen,
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