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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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langgestrecktes »Kwiuh« in die dunkle Nacht heraus, begleitet vom silbrig-hellen Zirpen der Grillen. Agnes’ Herz pochte schneller. Regte sich draußen etwas? Vorsichtig hob sie den Kopf und äugte zum Fenster an der gegenüberliegenden Stirnseite der langen, schmalen Stube. Die hölzernen Fensterläden standen weit offen, auch die dicken roten Bettvorhänge waren zurückgezogen. Von ihrem Bett aus erhaschte sie einen schmalen Ausschnitt der Welt außerhalb des Hauses. Sternenklar wölbte sich der Nachthimmel über die schlafende Stadt. Es war, als breitete er seine schützende Hand über sie aus. Direkt vor dem Fenster ragte die dicht belaubte Spitze des Apfelbaums auf. Kaum ein Luftzug strich durch die Blätter, auch das Käuzchen war verstummt. Lediglich das Summen von Fliegen erfüllte die Nacht.
    Agnes’ Kopf sank ins Kissen zurück. Tief sog sie den Duft der Wäsche ein. Lore mischte stets einige getrocknete Nelken unter das Waschwasser, was für einen besonderen Geruch sorgte. Wie würde sie den vermissen! Verstohlen wischte sie eine Träne aus dem Augenwinkel und beschloss, an anderes zu denken. Sonst brachte sie es am Ende nicht über sich, aus dem Bett zu steigen und sich im ersten Morgengrauen aus dem Haus zu stehlen.
    Sie tastete nach dem kleinen Bündel, das sie so weit wie möglich unter das Bett geschoben hatte. Endlich spürte sie den rauhen Stoff des Umhangs an den Fingerkuppen. Behutsam zog sie die Rolle nach vorn. Laurenz hatte ihr eingeschärft, nur das Notwendigste einzupacken: ein zweites leichtes Unterkleid aus hellem Leinen, einen dunkelroten Surkot aus leichter Wolle sowie eine Heuke aus etwas dickerem schwarzem Stoff und ein Leinenhalstuch zum Wechseln. Zudem hatte sie eine feine rote, reich mit verschiedenen Garnen und Perlen bestickte Borte aus Samt hineingelegt. Nach dem Tod des alten Fröbel hatte Gunda sie ihr feierlich überreicht und als »ein Erinnerungsstück aus vergangenen Tagen« bezeichnet. Geschickt hatte Agnes all diese Sachen zu einem langen Wulst zusammengerollt. Der Gürtel mit dem daran festgebundenen Gebetbuch, dem Rosenkranz, dem hölzernen Besteckkasten mit Klapplöffel und Messer sowie einem kleinen Geldbeutel aus Leder lag auf der Truhe bereit. Sie pries sich glücklich, seit Jahren schon einige Münzen gespart zu haben, die ihr Fröbel sowie die Mutter und Lore gelegentlich zugesteckt hatten. Zufrieden wog sie den Geldbeutel in der Hand, lauschte dem Klimpern der Münzen. Ihre Finger glitten weiter an dem Gürtel entlang. Heimlich hatte sie der Großmutter noch eine zierliche Dose mit Nadeln stibitzt, die sie ebenfalls daran befestigt hatte. Lore besaß zwei dieser Dosen. Eine trug sie stets am Gürtel, die zweite verwahrte sie auf dem schmalen Wandbord in der Schlafkammer. Des Diebstahls wegen plagten Agnes zwar Gewissensbisse, doch das Stück war ein Andenken an Lore, wie der Rosenkranz ein weiteres Geschenk der Mutter und das Gebetbuch sowie der Geldbeutel ein Geschenk des verstorbenen Fröbel war. Wieder wurden ihr die Augen feucht. Laurenz hatte recht: Es fiel ihr unendlich schwer, die Menschen, die sie liebte, zurückzulassen. Am besten, sie erhob sich und kleidete sich an. Lang konnte es ohnehin nicht mehr sein bis Tagesanbruch. Bevor die anderen aufstanden, sollte sie aus dem Haus sein und in einem Winkel nahe dem Pregeltor auf das Öffnen der Stadttore warten. Sie schwang die nackten Beine aus dem Bett und setzte sich auf.
    Das Leinenkleid wartete bereits auf dem Schemel neben dem Bett aufs Überstreifen, der hellblaue Surkot hing an einem Haken gleich bei der Tür. Leise zog sie sich an, band zuletzt den Gürtel um die Taille. Dabei schlugen Nadeldose und Besteckkasten gegeneinander. Das scheppernde Geräusch klang laut in der nächtlichen Stille. Erschrocken hielt sie beides mit den Fingern fest, horchte verängstigt, ob sich etwas regte. Im Haus blieb es still. Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Stube, kämmte sich das Haar, flocht es zu Zöpfen und wand sie zu Schnecken über den Ohren. Jetzt fehlte nur noch das Tuch am Hals, um das Feuermal zu verdecken. Ihre Finger zitterten, als sie den Kamm in die Rolle stopfte. Ein letztes Mal wanderte ihr Blick durch den dämmrigen Raum. Zuletzt trat sie ans Fenster, sah am Apfelbaum vorbei in den engen Hof hinunter. Der Brunnen in der Mitte, der Schweinekoben hinten an der Mauer, das Sudhaus mit dem Taubenschlag – all das prägte sie sich ein. Hastig wandte sie sich ab, griff sich die Rolle und klemmte

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