Gold
fahren, und setzte sich dann wieder an die Spitze. Zweimal mussten sie entgegenkommenden Motorrädern ausweichen, die auf dem Mittelstreifen überholten. Zoe streifte einen Außenspiegel, eine Hupe ertönte, und sie schrie vor Aufregung.
Sie war am glücklichsten, wenn sie auf der Straße fahren konnte. Es war schmutzig und schnell, und überall lauerten tödliche Gefahren. Die Autofahrer waren entweder schläfrig und abgelenkt oder wach und aggressiv. So oder so konnten sie jederzeit ausscheren und einen erwischen. Die weiße Markierung war glatt vom Regen, glitschig vom Diesel und mit Glassplittern übersät, die die Reifen zerschneiden konnten, so dass man vom Rad geschleudert wurde. Wenn man hinfiel, konnte man sich nur geschickt abrollen und hoffen, dass man gegen den Bordstein und nicht gegen ein fahrendes Auto prallte. Durch den Regen verschwammen die entgegenkommenden Scheinwerfer zu grellen Flecken, und mitten in diesem Chaos raste man mit seiner größten Konkurrentin um die Wette. Das Herz schlug einem bis zum Hals, Adrenalin schärfte die Sinne.
Sie wurden noch schneller. Zoe grinste in den Wind. Das war Radrennen in seiner reinsten Form, weil es keinen Preis gab und keine Medaille, und niemand wusste, wer man war. Es gab keine Anerkennung, keinen Ruhm. Man konnte sich selbst zurücklassen. So liebte sie es. Wenn sie so fuhr, dachte sie nicht an ihr Leben, sondern nur daran, dass sie nicht den kleinsten Fehler machen durfte. Man konnte so schnell fahren, dass die Geschwindigkeit sich aus sich selbst speiste und die Räder im Dunkeln zu dröhnen begannen und das Herz so heftig schlug, dass man dachte, noch ein Schlag mehr pro Minute werde einen umbringen, und dann plötzlich hörte man ein Motorrad und drehte sich um und sah den weißen Scheinwerfer hinter sich und fuhr irgendwie noch schneller. Lichter schossen vorbei wie Laserstrahlen. Man beugte sich vor und umfuhr Hindernisse und beschleunigte weiter. Nur beim Straßenrennen hatte Zoe ihr Leben unter Kontrolle. Nur hier konnte sie an einer sechs Meter hohen beleuchteten Werbetafel mit ihrem eigenen Gesicht vorbeifahren und lediglich wahrnehmen, dass sie die Straße angenehm erhellte.
Kate und Zoe kämpften auf dem schmaler werdenden Mittelstreifen um die Führungsposition, zuerst überholte die eine, dann die andere. Sie waren einander ebenbürtig. Nach fast eineinhalb Kilometern, als ihre Lungen zu bersten drohten, konnte sich keine mehr an die Spitze setzen. Der Mittelstreifen wurde zu eng, um nebeneinanderher zu fahren, und sie stießen zweimal mit der Schulter aneinander und mussten alle Kraft aufbieten, um in der Spur zu bleiben und nicht in den Fahrweg der Autos geschleudert zu werden.
Zweihundert Meter vor ihnen befand sich die Ampel an der Einmündung, wo ihre Route nach links in die Great Ancoats Street abzweigte. Die Ampel war grün.
Kate sah nach vorn und schätzte ab, an welchem Punkt die Ampel auf Gelb springen würde, sie aber noch ungebremst weiterfahren konnte. Ohne Vorwarnung trat sie fester in die Pedale und machte fünf Fahrradlängen auf Zoe gut. So lief das mit den Machtspielchen beim Straßenrennen: Man legte ein paar Sekunden lang noch einmal zu, ging weit über seine Grenzen hinaus, in dem Wissen, dass die Chance bestand, die Konkurrentin endgültig hinter sich zu lassen, weil die Ampel umsprang. Das Risiko bestand darin, dass man die Ampel falsch einschätzte, und dann konnte einen die Konkurrentin überholen, während man an seinem eigenen Sauerstoffmangel scheiterte.
Kate ging das Risiko ein und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes, als ihr Körper ans Limit ging. Sie wollte unbedingt gewinnen. Wenn sie Zoe schlug, auch wenn es hier um nichts ging, würde das Zoe negativ beeinflussen, wenn sie das nächste Mal ernsthaft an den Start gingen. Sie trat fester. Bei dieser Intensität war jede einzelne Sekunde unerträglich, zwanzig Sekunden waren unvorstellbar. Mit reiner Willenskraft zwang sie Sophies Bild herbei. So kam sie mit dem Leiden klar. Sie dachte: Wenn ich dieses Rennen gewinne, geht es Sophie besser. Das war nicht logisch, aber bei hundertsechzig Herzschlägen pro Minute blieb kein Platz für Logik. Als sie durch die Dunkelheit schoss, sah sie Sophie vor sich, und das Bild zog sie nach vorn.
Zoe kannte die Falle mit der Ampel auch und hatte schon damit gerechnet, dass Kate in den Spurt gehen würde. Sie nahm alle Kraft zusammen und trat schneller, entschlossen, den Abstand nicht größer werden zu
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