Gold
lassen. Sie schaute auf die Straße und schätzte den Punkt ein, ab dem die gelbe Ampel sie nicht mehr stoppen würde. Ihre Muskeln schmerzten schrecklich, doch sie nahm den Schmerz nicht zur Kenntnis. Ihre Reifen rutschten weg und schlitterten, als die seitlichen Kräfte so stark wurden, dass der Rahmen knarrte.
Kate war an der äußersten Grenze. Gerade als der Schmerz in ihren Muskeln und Lungen ein unerträgliches Ausmaß erreichte, wurde die Ampel gelb. Sie war noch fünfzehn Meter von der Stelle entfernt, die sie als Point of no return festgelegt hatte. Erleichterung schoss durch ihren Körper, jetzt konnte sie bremsen. Sie sah rasch über die Schulter, ob Zoe das Gleiche dachte. Aber Zoe ging aufs Ganze. Mit glasigen Augen schwankte sie wie in Trance auf dem Rad hin und her und schien gar nicht zu merken, dass Kate zu ihr hersah.
Kate zögerte. War sie zu vorsichtig? Sie war nur noch fünf Meter von der fraglichen Stelle entfernt, und die Ampel war immer noch gelb, und es bestand durchaus die Chance, die Linkskurve zu nehmen, wenn die Ampel gerade rot wurde. Sie warf einen Blick nach rechts, wo die Wagen auf der vierspurigen Straße vor der roten Ampel warteten. Vorn standen ein schwarzer Volvo und ein blauer BMW. Ein Motorradkurier wartete daneben. Kate sah, wie sich die Wagen im Licht der Ampel orange färbten. Keiner der Fahrer wirkte wie ein Irrer auf Rädern. Vermutlich würden sie nicht wie Rennwagen von null auf hundert beschleunigen.
Kate trat zweimal hart in die Pedale und zögerte wieder. Sie dachte an Sophie. Plötzlich erschien ihr die deutlich umrissene Haltelinie an der Kreuzung wie eine unübersehbare Grenze. Sie hatte ein kleines Kind. Konnte sie wirklich das Risiko einschätzen, wenn sie in vollem Tempo in eine Einmündung raste, auf die jeden Moment die Autos rollen würden? Sie stellte sich Sophies Gesicht vor, und die Augen ihrer Tochter bohrten sich förmlich in ihre Sehnen und Unterarmmuskeln, so dass sie spontan und mit voller Kraft bremste. Die Räder blockierten fast.
Als die Ampel gelb wurde, bemerkte Zoe Kates Zögern und beschleunigte instinktiv. Sie war noch dreißig Meter von ihrem eigenen Entscheidungspunkt entfernt, dachte aber nicht darüber nach. Sie dachte an Adam. Hier, an ihrer physischen Grenze, spürte sie den Blick ihres toten Bruders auf sich, neugierig und unerschrocken wie heute Morgen Sophies Blick. Sie spürte wieder, wie eine Welle die Zeit durchlief, von ihrem gemeinsamen Ausgangspunkt aus Kreise zog und mit ihr Schritt hielt, so schnell sie ihr auch davonfahren wollte.
Als Kate langsamer wurde, scherte Zoe aus und fuhr an ihr vorbei. Sie raste über die grellweiße Linie und jagte mit vierzig Stundenkilometern über die rote Ampel, beugte sich schräg in die Linkskurve, wobei ihre Räder über den nassen Asphalt rutschten und beinahe die Bodenhaftung verloren.
Auf dreißig Metern abgesperrter Bereich, linke Fahrbahn, Great Ancoats Street Einmündung Ashton New Road, Manchester
Der Fahrer des blauen BMW erklärte dem Polizeibeamten, er habe nicht ausweichen können. Er habe die Kreuzung zu drei Vierteln passiert gehabt und sei mit etwa fünfundzwanzig Stundenkilometern gefahren, als Zoe auf seiner Spur aufgetaucht sei, eine knappe Reifenlänge vor seiner Stoßstange. Ihm war weniger als eine Sekunde geblieben, um zu reagieren. Links von ihm fuhr der schwarze Volvo, zu seiner Rechten der Motorradkurier. Obwohl er sofort auf die Bremse stieg, hatte er Zoes Hinterrad gestreift und dann etwas unter seinen Reifen gespürt. Er war ziemlich durcheinander, weil er dachte, er habe sie überfahren.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte er dem Polizeibeamten.
Der Polizeibeamte hielt ein Klemmbrett mit dem Unfallbericht und einen Kugelschreiber an einer Schnur in Händen. »Sie könnten sagen, dass sie genau in Ihren Bremsweg gefahren ist. So ist es für Ihre Versicherung eindeutig.«
Nachdem der Polizist den Unfallort vermessen und die Bremsspuren, die kaputten Nummernschilder und Splitter des Blinkers untersucht hatte, war er geneigt, der Aussage des Autofahrers Glauben zu schenken. Die Radfahrerin war gestürzt und über die Fahrbahn gerollt, vermutlich knapp vor oder knapp hinter dem Motorrad, und gegen einen beleuchteten Poller auf der Verkehrsinsel in der Mitte geprallt. Sie hatte Glück gehabt, war mit Schnittwunden und blauen Flecken davongekommen.
Ihr Fahrrad hingegen sah schlimm aus. Er hatte das Wrack mit dem zerbrochenen Rahmen und den
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