Gold
ersten Tag setzte er sich an den Empfang und tat so, als würde er dort arbeiten. So konnte er mit den Jugendlichen sprechen und sehen, wie sie sich verhielten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Auf diese Weise lernte er sie besser kennen.
Zoe, neunzehn Jahre alt und hochgewachsen, traf als Erste ein. Mit ihrer schwarzen Daunenjacke, dem schwarzen Eyeliner und dem rasierten Kopf machte sie einen ziemlich wilden Eindruck. Sie lächelte nicht, aber egal. Tom fand es gut, wenn jemand früh kam. Damit beanspruchte man den Raum für sich. Auf der Bahn warteten die anderen beim Sprint darauf, dass man seinen Zug machte. Sie achteten auf das kleine Zucken in den Beinmuskeln, das eine Verschärfung des Tempos signalisierte. Und bevor sie reagieren konnten, hatte man schon einen winzigen Vorsprung gewonnen. Wer eine Stunde zu früh ins Velodrom kam, machte auf der Bahn eine Zehntelsekunde gut. So kamen Erfolge zustande.
Zoe marschierte zum Empfangstresen und stellte ihre Sporttasche darauf ab.
»Guten Morgen, Miss«, sagte Tom. »Was können wir für Sie tun?«
Zoe schaute an ihm vorbei zu dem Drehkreuz, das die Eingangshalle vom Velodrom trennte. »Elitesichtung«, sagte sie.
Tom grinste. »Oh là là, Elite?«
Sie hatte keine Lust auf Spielchen. »Zoe Castle. Ich stehe auf der Liste. Der Trainer ist Thomas Voss.«
»Voss? Doch nicht der alte Knacker?«
Sie verdrehte die Augen. »Könnten Sie bitte einfach auf Ihre Liste schauen?«
Tom gab sich verwirrt und sah sich suchend um.
»Vielleicht liegt sie noch nicht aus. Ich bin zu früh dran.«
»Zu früh für was?«
Sie hatte offenbar die Nase voll. »Hören Sie. Ich bin hier wegen – «
»Hoffen wir, dass Ihr Fahrstil genauso feurig ist wie Ihr Temperament, Miss Zoe Castle.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, und Tom drückte einen Knopf. Das Drehkreuz summte, und sie schaffte es tatsächlich, sich mit den Henkeln ihrer Sporttasche darin zu verfangen. Sie kämpfte eine Minute, bis sie die Tasche befreit hatte. Dabei brannten ihre Sicherungen endgültig durch. Tom beobachtete sie mit dem schockierten und gleichzeitig faszinierten Blick eines Kindes, das an die Glasscheibe im Reptilienhaus gehämmert und etwas Rabiates aufgeschreckt hat.
Er gab ihr eine Minute, bevor er ihr ins Velodrom folgte. Er beobachtete gern, wie Sportler auf diesen Raum reagierten. Zwölftausend Sitze zogen sich bis zum Kuppeldach empor. Es war so hoch, dass das Licht, das durch die Glaspaneele fiel, nicht bis nach unten auf die Bahn drang. Die breiten Sonnenstrahlen, die durch die gewaltige Leere fielen, verblichen vielmehr zu einem fossilen Grau. Es war ein strahlender Wintermorgen, doch unten auf der Bahn herrschte Zwielicht. Tom beobachtete, wie Zoe stehen blieb und ihre Sporttasche neben der Startlinie fallen ließ. Das Echo hallte in der leeren Halle wider.
Sie zog Schuhe und Socken aus und trat auf die Bahn, wobei sie mit bloßen Füßen die Neigung prüfte. Sie ging eine Runde gegen den Uhrzeigersinn. Auf den Geraden war die Bahn flach, in den Kurven jedoch so aggressiv steil, dass ihre Füße kaum noch am Boden hafteten. Sie fiel in einen langsamen Trab und wurde schneller, und Tom spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten, als sie die Arme ausbreitete und laut in den widerhallenden Raum hinausschrie.
Dreißig Minuten später tauchte Kate am Empfang auf. Sie trug zwei Fleece-Schals und eine Pudelmütze, unter der blonde Haarsträhnen hervorlugten.
Sie lächelte. »Tut mir leid, ich bin zu früh, oder? Ich wusste nicht, wie lange ich vom Hotel aus brauche. Ich meine, ich kann später wiederkommen, falls es … äh…«
Sie blieb auf halbem Weg zwischen Drehkreuz und Empfangstresen stehen. Tom betrachtete sie mit geneigtem Kopf.
»Ich bin für die Elitesichtung hier. Das ist doch heute, oder? In dem Brief stand … Vielleicht gibt es ja noch andere Sichtungen … Tut mir leid, wenn ich Ihnen Mühe mache.«
Tom stützte die Ellbogen auf die Theke, das Kinn in die Hände und lächelte. »Tief durchatmen.«
Was sie auch tat. Dann lachte sie. »Tut mir leid.«
»Fangen wir mal von vorne an. Sie haben bei der Geburt doch sicher einen Namen erhalten, Schätzchen?«
»Oh. Ja. Entschuldigung. Ja. Catherine Meadows. Kate.«
Tom warf einen Blick auf sein Klemmbrett.
»Catherine Anne Meadows, nordenglischer Champion auf Straße und Bahn, U12, U14, U16 und U18. Unsere Unterlagen zeigen ordentliche Ergebnisse, allerdings nicht für die letzten sechs Monate. Haben wir das
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