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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Baseballkappe wieder auf. »Na, dann spiel noch ein bisschen mit Daddy.«
    Als Sophie verschwunden war, klappte Kate den Toilettendeckel hinunter und ließ sich schwer darauf fallen, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Sie starrte auf die Haarsträhne an ihrem Finger. Die winzigen gelben Wurzeln am Ende der schwarzen Haare, wie Blumenzwiebeln, die man aus der Erde geholt hat. Sie hielt die Haare an die Lippen und küsste sie, spürte ihre Weichheit und den leichten Geruch von Chemo und Staub. Dann stand sie auf, hob den Deckel, um die Haare in der Toilette hinunterzuspülen. Es hatte keinen Sinn, deswegen einen Aufstand zu machen. Vielleicht würde Jack es von selbst bemerken, ansonsten war es gnädiger, kein Wort darüber zu verlieren. Eine Täuschung war es nicht. Sie verglich ihr Verhalten mit dem eines Zauberers auf der Bühne: Es war ein Taschenspielertrick, mit dem man von unheilvollen Augenblicken ablenkte und den Blick der Familie auf andere, gesündere Zeichen lenkte. Das war alles. Eine Familie war nur so krank, wie man es zuließ.
    Kate schaute zu, wie das Wasser in die Toilettenschüssel rauschte.
    Als Sophie zwei war, hatte sie ihr zum ersten Mal die Haare schneiden können. Die erste Strähne hatte sie in ein Album geklebt, die dunkle Locke auf der Seite befestigt und daneben in ihrer schönsten Schrift Sophies Namen und das Datum vermerkt. Sie war sogar zum Laden an der Ecke gegangen, um einen besonderen Stift zu kaufen, keinen Kugelschreiber.
    Und nun kreisten die letzten Haare ihrer Tochter mit unbändiger Munterkeit in der Toilettenschüssel. Sie zog noch einmal am Griff, doch die Haare wollten nicht verschwinden. So wie in Wahrheit das Leben nie verschwand.
    Nach Jacks Sturz bei der Elitesichtung wusste Kate nicht, was sie tun sollte. Tom hatte den anderen Fahrern mitgeteilt, man habe Jack auf die Intensivstation des North Manchester General Hospital gebracht, er habe zumindest Knochenbrüche erlitten. Damit ging die Sichtung zwei Stunden früher als geplant zu Ende. Unter der Dusche war Kate wie betäubt gewesen, ihre Gedanken waren gedämpfte Stimmen im Nebel. Danach hatte sie sich mit feuchten Haaren auf den Weg vom Velodrom zum Bahnhof gemacht, wobei die Sporttasche schwer an ihrer Schulter zog.
    Als sie durch die kalte Luft ging, erinnerte sie sich an Jacks Hand auf ihrem Arm, die langen Gespräche zwischen den Rennen und wie er spielerisch ihr Gesicht berührt hatte. Sie sah seine Finger nach dem Unfall vor sich, gebrochen und angeschwollen, ein spitzer Knochen ragte heraus. Oder war es sein Arm gewesen oder seine Beine oder sein Rückgrat? Die Bilder blitzten flüchtig in ihren Gedanken auf. Was dachte sie sich dabei, einfach wegzugehen? »Sehnsucht« oder »Anziehung« wäre das falsche Wort gewesen, aber ihr war klar geworden, dass sie erfahren musste, welche Knochen er sich gebrochen hatte.
    Andererseits widerstrebte ihr die Vorstellung, zum Krankenhaus zu gehen. Was sollte sie dort machen? Neben seinem Bett sitzen und seine Hand untersuchen und sie festhalten, falls sie nicht zu schlimm verletzt war? Dazu hatte sie nicht das Recht. Sie kannte ihn doch erst seit drei Tagen. Dennoch kam es ihr falsch vor, nichts zu unternehmen, einfach in den Zug zu steigen und nach Hause zu fahren, als wäre nichts Wichtiges zwischen ihnen passiert. Vielleicht wollte sie nur hierbleiben, weil Gespräche mit Jungen nicht auf diese Art und Weise enden sollten – dass man den Jungen mit einer Spritze ruhigstellen und Sanitäter in Handschuhen und grünen Overalls ihn auf einer Tragbahre abtransportieren mussten. Vermutlich dachten alle anderen Mädchen aus der Gruppe genauso. Hatte Jack nicht alle angelächelt? War sie denn die Einzige gewesen, deren Herz schneller geschlagen hatte? Vielleicht waren ihre Gefühle ganz normal, und sie war nur ein durchschnittliches und ziemlich unerfahrenes Mädchen aus dem Norden, das Regen und Regenbogen miteinander verwechselte.
    Fußgänger wichen ihr aus, änderten ihre Richtung und strömten zu beiden Seiten an ihr vorbei, als Kate mitten auf der Straße unvermittelt stehen blieb.
    Sie legte die Hände an den Kopf und versuchte nachzudenken. Es gab, zumindest in Friedenszeiten, keine klare Etikette, die einem den abrupten Schritt von einem netten Flirt zu einem ernsthaften Besuch im Krankenhaus erleichtert hätte. Emotionen ließen sich nicht mit Gesetzen regeln. Es gab nur den Zweifel, ob die aufkeimenden Gefühle für Jack ihr tatsächlich das Recht gaben, an

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